
Berlin – Die janusgesichtige Stadt in Film und Literatur
Abbildung: Vereinfachte Darstellung der Stadt Berlin
Abschnitte
Die Stadt der vielen Gesichter
Zur Einführung in Berlin möchte ich eine Passage aus der Erstausgabe meines Buchs „Berlin anders entdecken“ zitieren (das ich allen, die Berlin besuchen, empfehlen möchte):
„Als ich vor langer Zeit aus einer der Regionen der Welt, die Langzeitberliner ‘Provinz’ nennen (eine andersdeutsche Großstadt), ins damalige West-Berlin zog, war ich nicht nur begeistert. Prunk und Protz des kaiserlichen Deutschlands taten sich für mich in den breiten Straßen auf, selbst im alternativen Kreuzberg war eher Nabelschau als Aufbruch angesagt. Von der „Frontstadt“, in der idealistisch an der zukünftigen, freien, unbeschränkten Menschengesellschaft ohne Machtstrukturen gearbeitet wurde (meine damalige und für mich weiter nachvollziehbare Idealvorstellung) merkte man wenig. Und klar, der Konsum entlang des Ku’damm brummte – tagsüber in den Luxusläden, in der Nacht auf der Straße selbst, die teilweise als „Strich“ fungierte. Doch der erste Eindruck täuscht oft, oder zumindest gewöhnt man sich an alles, und dann fiel die Mauer.
Ich erinnere mich gerne an eine Unterhaltung im „Kumpelnest“, damals die Auffangbar für alle, die irgendwie nirgendwo hingehörten. Wir redeten, in jugendlich-hoffnungsvoller Naivität, über dies und das, darunter die Last der deutschen Vergangenheit, der praktisch jeder, den ich kannte, in eine positiv unsichere Zukunft entkommen wollte. Beispielsweise nach West-Berlin, das wir, in wohl unbegründetem Optimismus, als leeres Blatt bezeichneten. Als unbeschriebene, vielleicht ausradierte, vielleicht neue Stadt. So sah West-Berlin auch ein wenig aus, mit ihren großen Kriegsbrachen, dem „Niemandsland“ gegenüber dem noch unfertigen Kulturforum (heute Potsdamer Platz genannt), den oft noch eher kaputten als sanierten Altbauten, den häufig unpassend wirkenden Neubauten, und den utopisch wirkenden Ausnahmegebäuden, darunter Philharmonie und Haus der Kulturen der Welt.”
Beim Nachlesen des Textes bemerkte ich: Es geht hier stark um die Setzung einer Stadt (eines ‘Fluchtpunkts’, wie ich das an einer anderen Stelle nannte) als dem möglichen Ort des Entkommens ins Glück oder ins ‘gute’, ‘freie’ auch ‘schuldfreie’ Leben. Berlin kann so als eine Art Utopie gelesen werden, was aber kaum der Realität entspricht; und natürlich ist jedem klar, Berlin ist auch die andere Seite, die Hauptstadt der Schuld, Erbstadt vergangener Verbrechen. Um es flapsig zu sagen: Berlin atmet Zukunft ein und haucht Vergangenheit aus. Oder andersrum. Die Suche nach dem Glück legt, als Kulturbegleitung für einen Berlin-Besuch oder -Spaziergang, ein Berliner Duo aus Film und Buch nahe, Die Legende von Paul und Paula und Die Legende vom Glück ohne Ende. Beides sind, trotz der westdeutschen Einleitungsgeschichte, ostdeutsche Werke. Und eine Warnung, der folgende Text ist (wie alle Texte hier) eine wahre Schatzkiste an Spoilern; im Zweifelsfall also erstmal den Film ansehen ….

Die „Paula“ in der Rummelburger Bucht sieht zwar ähnlich aus, ist aber nicht mit dem Kahn aus dem Film identisch – darum ist sie aber noch keine „Laura“ (die Spitze wird spätestens im weiteren Text klar)
Die Legende von Paul und Paula, oder: Am Anfang war der Film
Die Legende von Paul und Paula (Regie: Heiner Carow) kam 1973 in die ostdeutschen Kinos und wurde der erfolgreichste Film der DDR. Warum? War es das Drehbuch von Ulrich Plenzdorf, Heiner Carow und Ingrid Reschke (die ursprünglich Regie führen sollte, aber während der Drehbuchentwicklung verstarb; der Film ist ihr gewidmet), waren es die attraktiven Hauptdarsteller, war es der Soundtrack1, der für die Puhdys (später die erfolgreichste aller DDR-Bands) den Durchbruch bedeutete, waren es die teilweise märchenhaften Bilder, die irgendwie die westlichen Alternativentwürfe der Hippies in den real existierenden Sozialismus zu tragen schienen? In einem Interview nach der Wiedervereinigung meinte Regisseur Carow, der Film sei gut angekommen, da er “erstmalig keine Heldin hatte, die sozusagen ihr Glück in der sozialistischen Arbeit sah, sondern sich frei zur Liebe bekennt”. Der Hinweis auf das Thema Glück ist hier wichtig; denn das Glück der Menschen oder Bürgery (der Bürger/innen aller Variationen) zu ermöglichen oder zu bedingen ist ebenso Angebot jeglicher Ideologie wie auch eigentliche Aufgabe der Regierungen und Gegenstand der Philosophie. Anders gesagt, Glück ist ein Wort für Utopie, und Carow drückt in dem Zitat aus, dass die DDR vorgab, dass ihr Staatsvolk die Arbeit für den Sozialismus (gemeint ist vielleicht eine hypothetische Gemeinschaft) als Erfüllung des eigenen Ichs sieht. Eine gewagte Annahme, die aber in vielen Bereichen (Religion, Gutmenscherey und Politik) ohne großen Bezug zur Wahrheit durchaus ernst genommen wird. Aber solche Überlegungen dürften kaum zur damailigen Popularität des Films beigetragen haben. Die ‚freie Hingabe an die Liebe‘ der Hauptdarstellerin eckte nicht nur bei der DDR-Zensur an (die darin kapitalistisch-westliche Einflüsse befürchtet haben mag. Im Westen wurde der Film von machen als Antifeministisch angesehen, Zitat: “das kameraauge zwingt den zuschauern gegenüber frauen die blickrichtung eines geilen spießers auf” (die Kleinschreibung gegen den Dudenkonsens war in den westlichen 70er/80ern in unangepassten Kreisen eine nicht unübliche Geste). Ich fand das Zitat in dem empfehlenswerten Text Der Untergang des alten Berlin in der Legende von Paul und Paula von Stephanie Warnke (hier verlinkt), zu deren Anfang die westdeutsche Autorin von der anfänglichen Empörung berichtet, die der Film noch Mitte der 1990er in ihr auslöste. Ich kann ihre, aus der “spätfeministisch-bundesrepublikanischen geprägten Perspektive” (Warneke) kommende Reaktion, nachempfinden. Auch ich fand das Frauen-/Menschenbild fremd, als ich den Film 2022 erstmals sah (genoss aber den fast märchenhaften Zug, die evokativen Bilder und meine eigene Verwirrung). Andere sahen das anders, allgemein wird eher die Kraft der Liebe, die Selbstbefreiung des Einzelnen und die Lösung aus dem politisch-ideologischen Wertezwängen betont (ein diesbezüglich passender Text von Stephan Brössel ist hier verlinkt).
Der Film erzählt die Geschichte zweier Menschen. Paul und Paula leben in derselben Straße, geteilt durch den Fortschritt – Paula (Aleinerziehend) bewohnt ein baufälliges Haus auf der Vergangenheitsseite der Straße, Paul wohnt (mit Frau und Kind) gegenüber in einem brandneuen Plattenbau, in der Gegenwart der Zukunft (der Zug von alt zu neu wird in den ersten Bildern des Films aufgebaut: es wird ein Altbau gesprengt, der Staub verweht, ein Neubau wird sichtbar; einstürzende Altbauten, sozusagen). Paula ist eine einfache Arbeiterin, Paul passt sich an die herrschende Moral und Gesellschaft an und ist daher “nach oben mobil” (die Kritik an den bestehenden Umständen dürfte dem ostdeutschen Publikum augenfällig gewesen sein). Dennoch findet das ungleiche Paar in einem Moment des Ausbruchs zueinander; beide sind auf der Suche nach einer freizügigen Nacht, kommen an die falsche Person und enden dann zusammen mit der ‚Richtigen‘ in Pauls Garage (der Hinweis hat seine Berechtigung, da Paula und Pauls Sexualität und Liebe zu Beginn nicht in einen bürgerlichen Kontext, also in ein normales Schlafzimmer, gegebene werden dürfen). Die neugefundene Liebe droht, an Pauls Spießigkeit zu zerbrechen, doch der romantisch-sexuelle Zug ist stärker als Pauls Bedürfnis zur Anpassung. In Warnekes Interpretation ist es Paulas Selbstopferung (sie besteht, trotz der Warnung durch einen Arzt, auf ein weiteres Kind, diesmal von Paul, und stirbt bei dessen Geburt), die den Mann Paul befreit, und ihn, den Platzhalter einer neuen Gesellschaft, am Ende des Films als eine Art verkörpertes allgemeines Maskulinum in, nun, einen echten, zufriedenen Sozialismus überführt. Berlin, Stadt des (teuer erworbenen) Glücks?
Die Legende von Paul und Paula wird oft als Berlin-Film angesehen; nicht nur ist eines der Themen die architektonische Realität (und Wandlung) der Stadt, es wird auch der lokale Dialekt gesprochen, wobei die Frauenfiguren Paula und Pauls erste Frau Ines (die Tochter einer eine Rummel-Schießbude betreibenden Familie wird negativ als eine Art Heiratsopportunistin dargestellt) hervorstechen. Heute trägt die starke Verortung, die Setzung einer berliner Identität und der Stadt als prägender Kultur eher zum Märchenhaften des Films bei; längst sind Kulturen zu Wahloptionen geworden, und Berlin (und andere Städte) eher Wahlheimaten als Schicksal. Stepahnie Warnke erwähnt in ihrem Text, dass die Figur Paula aufgrund der Eingabe der Schauspielerin Angelica Domröse berlinert – Domröse ist selbst in Berlin aufgewachsen; das Drehbuch ließ sie noch Hochdeutsch sprechen, von den Hauptfiguren sprach ursprünglich nur Ines (wohl um einen Bruch zwischen Schönheit, Status und verräterischer Sprache aufzubauen) den lokalen Dialekt.



Identitätsstiftender Spielplatz im Aufbau, Parkbank am Paul-und-Paula-Ufer während Sanierungsarbeiten, Singerstraße im Jahr 2024
Verortung
Verortet werden kann der Film gewinnbringend an mehreren Stellen im heutigen Berlin. In der Singerstraße in Friedrichshain, wo die Szenen in der (im Film nicht weiter benannten; der Plattenbau mit der Nummer 51 ist sichtbar) Straße der füreinander bestimmten Liebenden gedreht wurden. Hier standen sich einst frisch herausgeputzte Plattenbauten und verfallende Altbauten gegenüber; an die Atmosphäre des Films erinnert nichts mehr. Zum Wesen der (aktuellen wie damaligen) Neugestaltung möchte ich eine, hm, Beobachtung anführen. 2022 wurde die Plansche Singerstraße (‚Planschen‘ sind öffentliche Wasserspielplätze für kleinere Kinder) zur Renovierung entfernt und, zusammen mit den umliegenden Anlagen, neu entwickelt. Auf ihrer Website beschreibt die Senatsverwaltung das Angebot als einen ‚identitätsstiftenden Spielplatz‘. Um den Zusammenhang klarzzustellen: über die Kontraste zwischen lokaler/hochdeutscher Sprache und alten/neuen Gebäuden kann der PaulPaula-Film auch aus der Perspektive der Identitätsdiskussion interessant sein. Was aus einer Plansche/einem Spielplatz aber ein “identitätsstiftendes” Etwas machen soll, bleibt mir unerschlossen. Vielleicht sollen die Kinder dort spielend Kinder werden. Im Grunde halte ich den Text der Senatsverwaltung für den Ausdruck eines sprachlichen Opportunismus (‚Identität‘ war zu Beginn der 2020er ein identitätsstiftendes und in der Politik wohl werbewirksames Schlag- oder Buzzwort). ‚Identitätszeugend‘ sollten sicher auch die sozialistischen Neubauten sein, während die Altbauten eine vergehende Identität ausdrückten. Soll so eine neue Identität irgendwie immer eine alte ersetzen oder sogar ausradieren?
Ein weiterer relevanter Ort ist die Rummelsburger Bucht; dort wurde eine der berühmtesten Szenen des Films gedreht, eine Traumsequenz, in der Paul und Paula auf einem Schiff (Paulas Vorfahren waren Schiffer; die Familientradition wurde aufgegeben, da kein Sohn, sondern nur eine Paula zur zukünftigen Verfügung stand) inmitten der Ahnen Paulas verheiratet werden. Es ist eine seltsame Szene, die mit ihrer Verknüpfung von Sex und einer Art glücklichen Vernichtung des Einzelnen in der Einordnung in die Generationenfolge fast beängstigend sein kann. Die Familien- oder Zeugungsfolge ist an vielen Stellen im Film Thema. So wird eine sinnliche Szene zwischen den Liebenden zu einem alt wirkenden Schwarzweiß-Bild in einem Rahmen, dass unschwer als Fortsetzungen früherer solcher Partnerportraits zu erkennen ist. Doch zurück zur Traumsequenz: Die Ahnen Paulas fixieren Paul und Paula mit Ankerketten auf ihrem Ehebett, bedecken sie (sichtbar bleibt nur das Gesicht Paulas) mit Blumen, setzen das Bett in Brand. Die Szene eröffnet viele Gedankenmöglichkeiten. Der Ort selbst, das untere Ufer der Rummelsburger Bucht, inoffiziell schon länger als Paul-und-Paula-Ufer bezeichnet worden sein (seit etwa 2000 ist der Name offiziell), es gibt ein Straßenschild (das oft geklaut wird) und eine ‚allen Berliner Liebespaaren‘ gewidmete Sitzbank. Vom Film ausgehend, in dem Kähne und das eher kahle Ufer der Halbinsel Stralau zu sehen sind, ist der Wandel hier augenfällig. Hausboote haben die Kähne ersetzt, Stralau ist durch Neubauten und zu Luxuswohnungen umgebauten Industriedenkmälern geprägt. Auf der Rummelsburger Seite ehrt eine neue Straße den Autor des Drehbuchs des Films, Ulrich Plenzdorf, im Umfeld gibt es weitere Straßennamen mit Filmbezug, darunter auch das Paul-und-Paula-Ufer (aktuell, Stand 2024, wegen Sanierung umzaunt) und die Ingrid-Reschke-Straße. Die Bebauung aus den frühen 2020ern ist unpersönlich-modern; zu meiner Überraschung fand ich im Internet eine englischsprachige Seite, die hochpreisige Wohnungen in der Plenzdorf-Straße anbietet und laut Vermerk auf der Website ausschließlich Anfragen von Mietern zwischen 18 und 35 Jahren bearbeitet. Dies mag anekdotisch sein, aber seit den Tagen der Kritik am sozialistischen Wohnungsbau hat sich einiges geändert.
Eine der Besonderheiten des Films ist (für mich) seine Offenheit in Sachen Interpretation. Häuserbau, Geschichtsbild, Identität, Reproduktionskraft, Feminismus, sexuelles Glück, die halbe Freiheit und weitere Themen lassen sich finden. Viele würden den Film ein Werk der DDR-Kritik nennen, und das ist sicher nicht falsch. Das Werk kritisierte zur Zeit der Veröffentlichung den Anpassungsdruck und die (für ein sozialistisches Land seltsame, weil nicht vorgesehene) Spießigkeit der DDR. Der Alltag mit seinen Problemen und der (auch nicht vorgesehenen) Mangel an gewissen Produkten wurden realitätsnah dargestellt. Die Reaktion von staatlicher Seite war nicht enthusiastisch. Zwar hatte SED-Chef Honecker selbst die Zulassung des Films genehmigt (die DDR-Zensur gilt als scharf und erfolgte eigentlich gegen die zeitlokal geltende Gesetze, die eine freie öffentliche Meinungsäußerung garantieren sollten), er wollte sich als Freund der Jugend zeigen. Hier ist zu beachten, dass Honecker erst seit 1971 der mächtigsten Mann der DDR war und sich als, gegenüber der ‚alten Riege‘, kulturell und gesellschaftlich liberal zeigen wollte (obwohl er zuvor dafür bekannt gewesen war, nicht ganz linientreuen Kulturschaffenden ’spießbürgerlichen Skeptizismus‘ vorzuwerfen). Jedenfalls, der Film eckte bei der ideolgiesicheren Zensurbehörde an. Bei der Premiere sollten, laut Erzählung des Regisseurs, 800 Staatsbeauftragte eisige Stimmung verbreiten, den Film Totschweigen. Das klappte nicht. Die 400 ‚eigenwilligen‘ weiteren Besucher klatschten lauter als die 800 empörten Werteverteidiger schwiegen. Dennoch, die Kritiken der staatstragenden Presse waren negativ, es wurde von einer “Konzentration auf den erotischen Erlebnisbereich” gesprochen, der Film wurde als unausgegoren abgetan. Das Unbehagen der Meinungseliten dürfte das damalige Publikum angesprochen haben. Es bildeten sich lange Schlangen vor den Kinos.
Anders als von der auf eindeutige staatstragende Aussagen gebürsteten DDR-Presse und -Zensur geschehen muss der Film aber nicht unbedingt als eine ungerechtfertigte oder antisozialistische Kritik am ostdeutschen Staat gelesen werden. Es ist möglich, ihn als Versuch zu sehen, eine bessere Gesellschaft oder ein besseres Leben als das gegebene aufzuzeigen. Dass dabei die weibliche Hauptrolle, aus einer Perspektive gesehen, zur Fruchtbarkeits- und Opfergöttin entmenschlicht und der männliche Hauptdarsteller zum opportunistischen, zu bekehrenden Tor degradiert wird, kann als Teil eines Kunstprozesses angesehen werden, in dem nicht nur nicht alles immer sakrosankt sein muss, sondern das rezipierende Individuum die eigentliche, wenn auch nur persönliche, Deutungshoheit behält. Diese Freiheit ist fantastisch, und sicher nur bei Werken möglich, die keinen klaren Sinn oder Zweck haben müssen. Leider wird die Deutungshoheit inzwischen wieder gerne zentralisiert, der Kunst gerne ein einfach beschreibbarer Sinn zugeordnet. Als Gegenmittel bietet sich ein Spaziergang durch Berlin an. In der gegenwärtigen Stadtlandschaft begenet mensch noch immer oft dem befreiende Spannungsverhältnis zwischen Spießer- und Aussteigertum, Selbstdarstellung und Anpassung, zwischen Lobbyismus, Gutmenscherei und Egoismus. Im Osten wie im Westen. Auch wenn in Ostdeutschland der Film, nachdem die beiden Hauptdarsteller Anfang der 1980er in die BRD dissertierten, bis zur Wiedervereinigung gecanceled wurde.

Gegenüber der Singerstraße findet sich das Verlagsgebäude Neues Deutschland, das sich während der Filmarbeiten zu „Paul und Paula“ im Bau befand; 2011 wurde das Schriftband entlang des Erdgeschosses angebracht, an der rechten Seite findet sich ein Zitat von Karl Marx: „Die soziale Revolution kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft“.
Ein Buch wagt mehr als tausend Bilder
1979 veröffentlicht Ulrich Plenzdorf den Roman Die Legende vom Glück ohne Ende, auf dem Drehbuch zum PaulPaula-Film aufbauend. Im ersten Teil wird der Film nacherzählt; der zweite Teil bricht zu neuen Ufern auf. Paul lebt nach Paulas Tod weiter, ohne Glück und ohne Liebe, dann trifft er auf Laura, die wie bestellt in seinem Leben auftaucht. Laura ist weniger naiv, weniger liebesbedürftig, weniger anschmiegsam, sieht aber Paula aufs Verwechseln ähnlich. Paul glaubt an die neue Paula, die partout Laura heißen will, und Laura hat nichts gegen eine Beziehung zu Paul, gegen das Glück. Sie versteht sich gut mit den Kindern, besteht aber irgendwie auch auf sich. Schnell kommt der Verdacht hoch, dass dieses neue, unerwartete Glück nicht einem gütigen Schicksal, sondern der allgegenwärtigen Staatsmacht zu verdanken ist, die Paul zurück in die produktive Community holen möchte. Als Paul dies klar wird verzweifelt er an der Realität seines über Laura vom Staat kuratierten Lebens, seines falschen Glücks. Nach einem schwerem Unfall ist er fortan an einen Rollstuhl gefesselt.
Die Legende vom Glück ohne Ende ist weit mehr als ein Buch-zum-Film. Wer den Film sieht, mag manche für visuelle Medien typische, hm, Vereinfachungen irritierend finden. So ist Paul ein gutaussehender, dürrer, großer und junger Mann, der, Verkörperung sinnlich-sexueller Romantik, der seinen nicht gutaussehenden, dicklichen, kleinen und alten Widersacher um Paulas Treue, den schon durch seinen Namen verächtlich gemachten Reifenhändler Reifen-Saft, durch den empörten Ausruf “Der kann doch nicht mehr!” (mit der Bedeutung, seine sexuelle Produktionskraft ist versiegt) zu entwerten versucht. Darüber kann mensch lachen oder sich fremdschämen. Im zweiten Teil des Romans wird Saft anders dargestellt – er erhält sozusagen seine Menschlichkeit zurück, hilft aus, wo er kann. Auch Pauls erste Frau Ines, im Film als einfache, egoistische Opportunistin dargestellt, überrascht durch ihre Menschlichkeit und Offenheit dem gelähmten Paul gegenüber. Es wirkte auf mich beim Lesen fast, als wollte Plenzdorf einige negative Effekte des gerne plakativen Mediums Film korrigieren. In einer der letzten Szenen fährt Paul, als Mensch mit starker Behinderung inzwischen für die ostdeutsche Staatsmacht weitgehend uninteressant, einfach nach West-Berlin. Er rollt um die Zoogegend herum, bemerkt erstaunt, dass im ‚Westen‘ durch behindertengerechte Zugänge zu Gebäuden und öffentlichen Verkehrsmitteln eine stärkere Inklusivität gegeben ist als in seinem Heimatland und kehrt trotzdem nach Ostberlin zurück. Und dann verschwindet er irgendwann, nach irgendwo – ohne Republikflucht.
Das Verschwinden Pauls am Ende des Romans kann, auch durch den kurzen Besuch im Westen, als Abkehr von den ideologischen Diskussionen oder Lebenswegen gesehen werden, muss aber nicht. Vielleicht ist es einfach das einer Legende zustehende märchenhafte Ende. Die Offenheit und Vielschichtigkeit des Film-Roman-Duos ist eine schöne Hommage an ein Berlin, das Lebenswege abseits der durch Ideologie, Geschichte, Schuld oder Gesellschaft/Community vorgegebenen Pfade erlaubt oder sogar nahelegt. Eine Stadt, die es so nicht gibt und vielleicht nie gab und die durch diesen Satz sicherlich auch ungenügend beschrieben wäre. Zu sagen bleibt vielleicht noch, dass nicht nur die Paula des Films kritisch gesehen werden kann – auch in das männliche Geschlecht geworfene Menschen können die Darstellung des attraktiven Mannes als einem angepasstem, zu formendem Material, hauptsächlich sexuell interessiertem und opportunistischem Wesen (immerhin, Paul wird nie brutal und kommt, einmal aus der Seilschaftsgesellschaft gelöst, sogar ziemlich cool rüber) als wenig schmeichelnd ansehen. Die Veränderung der Legendenpersonen Paula und Paul zu den schwierigen Menschen Laura und Paul lohnt die Lektüre allemal.
Möglicher Spaziergang

Quellen & mehr
“Die Legende von Paul und Paula, DEFA-Film, DDR 1973, Drehbuch: Ulrich Plenzdorf, Heiner Carow
“Die Legende vom Glück ohne Ende”, Hinstorff Verlag, Rostock 1979
“Der Untergang des alten Berlin in der Legende von Paul und Paula” von Stephanie Warnke : https://werkstattgeschichte.de/wp-content/uploads/2017/01/WG43_109-121_WARNKE_PAULA.pdf
“Die Legende von Paul und Paula – Einer der schönsten Liebesfilme der DEFA wird 50!”, https://www.adk.de/de/news/index.htm?we_objectID=65159
“Die subversive Kraft empathischer Liebe im DEFA-Film DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA”, https://www.uni-muenster.de/Germanistik/ffm/Paradigma/paradigma2/broessel_diesubversivekraftemphatischerliebeimdefafilmdielegendevonpaulundpaulina.html
- Die Songs wurden von Peter Gotthardt komponiert, der sich dabei eng an westliche Vorbilder hielt; so steht das Lied „Wenn ein Mensch lebt“ eindeutig in der Schuld des Lieds „Spicks & Specks“ von den Bee Gees. Die Texte verfasste Ulrich Plenzdorf, wobei er Zitate aus dem Alten Testament verwendete. ↩︎