Ronda – die „träumende Stadt“ der Romantiker (und der Stierkämpfe)
Abschnitte
Die gespaltene Stadt
Ronda, in Andalusiens Serranía de Ronda gelegen, auf einem gespaltenen Felsplateau inmitten einer ebenso rauen wie malerischen Landschaft in den Himmel ragend, gilt als einer der schönsten Orte des spanischen Südens und inspirierte über die Jahrhunderte zu verschiedensten Aussagen. Für den besuchenden Damasker Abulfeda (1273-1331), der unter anderem muslimische Feldzüge gegen christliche Kreuzfahrer dokumentierte, war Ronda „eine elegante, aufstrebende Stadt, der die Wolken als Turban und die Türme als Schwertgürtel dienen“ (sicher keine genaue Übersetzung). Rainer Maria Rilke (1875-1926), ein deutschsprachiger Dichter aus Prag, soll geschrieben haben: „Ich habe überall nach der ‚Stadt der Träume‘ gesucht und sie hier in Ronda gefunden.“ Das Sentiment hat die Tourismusindustrie der Stadt aufgenommen; Ronda bewirbt sich gerne als ciudad soñada, als „erträumte Stadt“. Ernest Hemingway (1899-1961), Autor und Kriegsberichterstatter aus den USA, fand die Stadt nicht nur für Besuche der Stierkampfarena ideal (hier wurde ein Teil der Kultur der spanischen Tauromaquia geprägt), sondern auch für Verliebte auf der Flucht vor den Sachzwängen der Gesellschaft. Dieser letzte Punkt würde auch zum lokalen Monument Ronda a los Viajeros Romanticos (Rondas „Hommage“ an die begüterten „Reisenden der Romantik“ des 19. Jahrhunderts) passen. Um 2013 wurden Zitate einiger dieser Reisenden (darunter Washington Irving, Gräfin Robersart und Alfred von Wolzogen) einer bereits bestehenden hübschen Keramikdarstellung der Stadt hinzugefügt. Der Ort ist für touristische (und andere) Aufmerksamkeit gut gewählt. Egal, wer warum Ronda besucht, irgendwann stehen alle auf der „neuen Brücke“ (Puente Nuevo) über die tiefe Schlucht des Tajo, Jahrhundertwerk des Flusses Guadalevín, der, so wirkt es, die Stadt spaltet. Von hier wandert der Blick in die romantische Weite, auf Wiesen, Berge, Himmel, auf das Häusermeer zu beiden Seiten, oder hinab in die schwindelnde Tiefe. „Tajo“ bedeutet „Abgrund“, aber auch „Schnitt, Schnittwunde“.
Der Tajo, vom Puente Viejo stadteinwärts gesehen
Ronda ist schön, Ronda ist faszinierend, Rondas Herz ist das ungleiche Paar aus Tajo und Puente Nuevo. Aber obwohl Ronda nur eine Schlucht hat, gibt es hier nicht nur eine Brücke, sondern drei. Brücken stehen für Verbindungen, wo Brücken gebaut werden, da werden, meistens, Hände ausgestreckt. Dieser Gedanke wurde auch für die Rückseite der Euro-Banknotenserie aufgenommen (sie alle zieren verschiedene Brücken) und so erklärt: „Die Brücken auf der Rückseite stehen für die Verständigung zwischen den Menschen in Europa sowie zwischen Europa und dem Rest der Welt“. Ein schöner Gedanke. Gilt aber auch: Wo Brücken abgebrochen werden, da wird auch geschossen? Die älteste der drei Brücken Rondas, meist Puente Arabe genannt, wurde wohl schon in römischen Zeiten angelegt, wohl zur Gründung Rondas, das im Laufe seiner Geschichte diversen herrschenden Kulturen Heim war. Von hier zieht sich die Altstadt (La Ciudad) den Fels hinauf, während der Fluss in die Schlucht fließt. Die Neustadt (El Mercadillo) gab es lange nicht. Es gab nur die Einheit von La Ciudad, ummauert und geschützt. So diente die erste Brücke Rondas wohl dazu, trockenen Fußes oder mit Zugkarren über den Guadalevín zu kommen. Um das fruchtbare Land zu erschließen, oder um Schutz und Luxus der Stadt zu genießen. Die zweite Brücke, genannt Puente Viejo, liegt in unmittelbarer Nähe, aber ein wenig höher, etwa 30 m über dem Fluss. Ihr Zweck war dem der älteren Brücke gleich, nur ist sie breiter, bietet einen schönen Blick in die Schlucht und einen leichteren Zugang zum Aufstieg in die Altstadt. Die erste Version dieser Brücke entstand spätestens unter maurischer Herrschaft. Von ihr aus sind auch die alten Stadtmauern Rondas zu sehen, ein Hinweis auf die oft wenig friedliche Vergangenheit der Region. Ronda war einst eine Grenzstadt zwischen dem Emirat von Granada (dem letzten muslimischen Reich auf der iberischen Halbinsel) und dem sich bildenden christlichen Spanien der Königreiche Kastilien und Aragon. Zwar hatte das Nasriden-Emirat eine oft seltsam gute, fast friedliche Verbindung zu den benachbarten Gebieten, die Mächtigen Kastiliens können zeitweise sogar als Lehnsmeister der Nasriden bezeichnet werden (ein Verhältnis, dass auf beiden Seiten Frieden und eine gewisse religiöse Toleranz einforderte). 1482 brach dieser Frieden zusammen. Übergriffe entlang der Grenze führten bei den christlichen Machthabern zu dem Entschluss, das Emirat von Granada zu erobern. Nun wurden Brücken abgerissen oder zumindest beschädigt, darunter auch die nach Ronda. Manche sagen sogar, der Fall Rondas hätte den Fall Granadas und damit das Ende des letzten muslimischen Reiches auf der iberischen Halbinsel unabwendbar gemacht. Damit wäre die Eroberung Granadas 1492 (das Ende der „Reconquista“) der Punkt eines Satzes, dessen erste Worte mit der Eroberung Rondas 1485 geschrieben worden waren.
Puente Nuevo
Die Brücke über die Schlucht
Im Anschluss an die Einbindung der Stadt ins christliche Spanien wuchs auf der anderen Seite der Schlucht der heutige Stadtteil Mercadillo heran. Hier (wohl zuerst nahe der bestehenden Brücke, also vor dem Stadttor) siedelten sich Handelstreibende an, denen die Steuern innerhalb der Stadtmauern zu hoch waren. Schon 1542 soll die Konstruktion einer Brücke als direktere Verbindung angedacht worden sein. Die Verbindung, ganz im Sinne der Euro-Banknoten, wurde im Jahr 1734 mit der Einweihung einer einbögigen Brücke über die Leere zwischen den Stadtteilen Realität. Das Werk kollabierte 1741, riss bis zu 50 Menschen mit sich in die Schlucht, in den Tod. Brücken können tückisch sein. 1793, nach einer Bauzeit von 34 Jahren, war dann die heutige Brücke, mit drei Bögen und auf massiven Fundamenten fest errichtet, aus der Schlucht hinaufgewachsen. 98 Meter hoch und 66 Meter lang ist die meistfotografierte Brücke Spaniens ein eigentümliches Meisterwerk, dessen Dialektik aus freiem Blick und abgründiger Tiefe Gedanken an Freiheit und Tod evoziert. So hielt sich lange die Legende, Martín de Aldehuela, der Architekt der Brücke, hätte sich (je nach Gerüchteküche beispielsweise da er erkannte, er würde nie wieder so etwas Perfektes bauen können) von hier aus in den Tod gestürzt. Tatsächlich starb Aldehuela 1802 in Málaga. Die Brücke verblieb im Spannungsfeld von Schönheit und Tod. Lange Zeit wurde ein im oberen Teil des Bauwerks befindlicher Raum (heute ein Museum) als Gefängnis benutzt. Von hier sollen im spanischen Bürgerkrieg politische Gefangene in den Tod gestürzt worden sein. Belege dafür gibt es nicht. In Ernest Hemingways Roman For Whom the Bell Tolls findet sich eine ähnliche Szene.
Aber zurück zum Architekten der Brücke. Ein weiterer seiner Entwürfe sollte für Ronda (und Hemingway) Bedeutung erlangen: Die Plaza de Toros de Ronda, Rondas Stierkampfarena, nahe am Puente Nuevo auf der Mercadillo-Seite gelegen und einige Jahre vor dieser (1785) fertiggestellt. Seltsamerweise entspricht der Diameter des Stierkampfrings der Länge der Brücke über den Tajo fast genau (66 m). Dieser Schauplatz des „Tanzes mit dem Tod“, der bis zu 5.000 Zuschauer fasst, gilt als einer der bedeutendsten Plätze in der Geschichte der Tauromaquia. Heute wird der Stierkampf auch in Spanien breit kritisiert; was könnte an der öffentlichen Tötung eines Tieres einen kulturellen Wert haben, von mehr als niedrigem Interesse sein? Hemingway: „The only place where you could see life and death, i.e., violent death now that the wars were over, was in the bull ring and I wanted very much to go to Spain where I could study it. I was trying to learn to write, commencing with the simplest things, and one of the simplest things of all and the most fundamental is violent death.“1
Blick von Ronda auf das Umland
Hemingways For Whom the Bell Tolls
Ernest Hemingway besuchte Ronda erstmals in den 1920ern (aus dieser Zeit stammt auch das oben eingefügte Zitat; der 1. Weltkrieg war vorbei, dem Frieden schien die Zukunft zu gehören) und zeigte sich begeistert; in Death in the Afternoon (1932), einem Essay über den Stierkampf, schrieb er „The entire town and as far as you can see in any direction is romantic background.“2 Hier erlebte Hemingway die Auftritte eines Matadors, der eine Figur im Roman Fiesta – The Sun also Rises inspirierte. Der Roman handelt von den seelischen Verwundungen der jungen Überlebenden des 1. Weltkrieges, der von Gertrude Stein so benannten „Lost Generation“, und spielt hauptsächlich in Paris und Pamplona. In Ronda wurde 2015 eine Reliefstele zur Erinnerung an den Autor aufgestellt (gleichzeitig mit einer Stele für Orson Welles). Sie vermerkt die Namen der Stierkämpfer El Niño de la Palma und Antonio Ordóñez (Vater und Sohn), die als „primer y ultimo canto novelesco“ (so etwa: erster und letzter Romangesang) des Schriftstellers beschrieben werden, womit auf zwei von den Stierkämpfern teilweise inspirierten Werke Hemingways verwiesen wird. For Whom the Bell Tolls, zu dem ich hier ein paar Gedanken niederschreiben möchte, wird nicht erwähnt.
Warum auch? Der Roman spielt nicht explizit in Ronda. Allerdings gilt die Stadt als Schauplatz eines wichtigen Teils des Romans; einer grausamen und überraschenden Szene nahe eines tiefen Abgrunds. Natürlich haben wir sofort den Puente Nuevo vor dem inneren Auge. Hemingway beschreibt den Ort (eine Brücke erwähnt er nicht; zu jener Zeit war allerdings die Stadtregierung an dem Platz vor der Brücke verortet): „The town is built on the high bank above the river and there is a square there with a fountain and there are benches and there are big trees that give a shade for the benches (…) On three sides of the plaza is the arcade and on the fourth side is the walk shaded by the trees beside the edge of the cliff with, far below, the river. It is three hundred feet down to the river (…) Pablo organized it all as he did the attack on the barracks. First he had the entrances to the streets blocked off with carts as though to organize the plaza for a capea. For an amateur bull fight. The fascists were all held in the Ayuntamiento, the city hall, which was the largest building on one side of the plaza.“3
Bevor ich selbst (auf dem Weg nach Ronda) den Roman aufschlug, hatte ich angenommen, der im spanischen Bürgerkrieg spielende Text würde weitgehend die Grausamkeit des extrem rechten Movimento Nacional aufzeigen, dem allgemeinen Geschichtsbild entsprechend. Kapitel 10 des Buches beschreibt, wie als Faschists gekennzeichnete Menschen von den männlichen Stadtbewohnern in einem politisch motivierten, aus dem Ruder laufenden Ritual zu Tode geprügelt und dann in den Abgrund geworfen werden. Die Szene erinnert an einen Rutenlauf und wurde (im Roman) vom republikanischen Rebellenführer Pablo erdacht, der für die Zeit während der Einnahme der Stadt als intelligent und grausam, im späteren Verlauf seiner Zeitlinie als feige und gebrochen charakterisiert wird. Pablo will das gesamte Dorf („das Volk“ – das spanische Wort „pueblo“ bedeutet sowohl „Volk“ als auch „Dorf“) an der „Reinigung“ beteiligen. Durch den Mord soll die Bevölkerung unwiderrufbar Verantwortung übernehmen, politisiert werden. Die „intelligente“ Aktion erweist sich als Pakt mit dem Teufel. Auch für Pablo, der später an der Grausamkeit des „Notwendigen“ zu zerbrechen scheint.
Um klar zu sein: Hemingway relativiert auf keine Weise die Schuld/Unmenschlichkeit des faschistischen Regimes, noch ist dies auf irgendeine Weise das Anliegen dieses Textes. Hemingway beschreibt später die lebensverachtenden, brutalen Taten einiger Menschen auf der faschistischen Seite der Polarisierung. Wenn er etwas relativiert, dann eher die Unschuldsannahme derer auf allen ideologischen oder sonstigen Seiten, die Gefallen daran finden, über das Leben anderer zu Gericht zu sitzen, sogar zu töten, oder solches Verhalten innerhalb von politisch motivierten Aktionen zu rationalisieren. „We tresh fascists today, and out of the chaff comes the freedom of this pueblo“4, sagt einer der Männer, die an der Abschlachterei teilnehmen. Die Szene, erzählt von Pilar, der Frau Pablos, eskaliert und wird, ungewollt (gewollt ist ein „sauberes“ Ritual), zu einem Bad im Blut der Anderen. Schuldzuweisung und Politisierung wecken ein Monster, an dessen Taten die erzählte Erzählerin bald keinen Teil mehr haben möchte. Aber wir sollten uns dem eigentlichen Erzähler zuwenden. Obwohl Hemingway (im negativen Sinn) als sehr „männlicher“ Schriftsteller angesehen wird, als jemand, der Jagd, Stierkampf und rohen Konflikten etwas abgewinnen kann, wirkt der Roman tendenziell wie ein Aufruf zum Pazifismus. Stimmt das?
Aufschrift auf einem Stierkämpfer-Denkmal, etwa: „Feiglinge sind keine Männer, und zum Stierkampf braucht es Männer“
For Whom the Bell Tolls stellt (für mich) den Krieg als Mathematik der Gewalt dar. Menschenmengen zählen, Materialzahlen zählen, der genaue Zeitpunkt einer Aktion zählt; Individuen sind austauschbare Rädchen, haben zu funktionieren und können, fataler Gedanke, ihre verlorene Menschlichkeit am einfachsten in Ausschreitungen ausdrücken, in Brutalitäten. Mit anderen Worten: Der Krieg befördert das Hässlichste im Menschen, auf allen Seiten, aber vielleicht nicht auf allen Seiten gleich stark. Gleichzeitig wird auch vom „Guten“ erzählt, von menschlichen Haltungen. In einem der ersten Kapitel erklärt Robert Jordan, Hauptfigur des Romans, in einer Unterhaltung mit dem Bergführer Anselmo, der am Töten von Menschen verzweifelt und daran, dass einige seiner Kameraden Gefallen am Morden finden: „Nobody does except those who are dirsturbed in the head. But I feel nothing against it if it is necessary. When it is for the cause.“5
Stellt Hemingway die Frage, wann es notwendig ist, zu kämpfen und, falls nötig, Menschen zu töten? Vielleicht. Bereits in der ersten Szene wird klar, Jordan wird, nach der menschenverachtenden Mathematik des Krieges, strategischen Zielen geopfert. Seltsam ist, wie wenig die Figur sich gegen ihr Schicksal wehrt – liegt ihr nicht viel am eigenen Leben? Ist „die Sache“ wichtiger? Die Republik. Der Antifaschismus. Die Zukunft. Pierre Vilar erwähnt in seiner Kurzen Geschichte zweier Spanien einen „anarchistischen Bäcker, eine Art Asket, der glaubte, das Recht zur Eliminierung des unbelehrbaren Klassenfeinds zu haben, (diesen aber) für einen seltenen Fall hielt (die menschliche Natur ist gut); sein eigenes Leben galt ihm wenig – einzig die strahlende Zukunft zählte“. Doch auch diese fast religiöse Hingabe an die „Sache“ scheint Robert Jordan (mein Eindruck) fremd zu sein. Ist seine Hingabe an die Sache eventuell eine Art Selbstmord? Oder eine Suche nach einem anderen Leben?
Maria, eine der weiblichen Hauptfiguren, ist eine junge Spanierin. Die Faschisten erschossen ihre Eltern vor ihren Augen und denen des Dorfes für deren Sache (in erschütternder Parallelität zu den Ereignissen im erzählten Ort Ronda). Danach wurden die Frauen ihres Dorfes Opfer eines Rituals, in dessen Verlauf ihnen die Haare abgeschoren und sie vergewaltigt wurden (ihnen wurde auf bestialische Art ihre Ehre als Frauen/Menschen genommen, wie im Zusammenhang des Romans klar wird). Traumatisiert wurde Maria, durch Zufall, im Verlauf eines Eisenbahnüberfalls von der Guerillagruppe Pablo/Pilar befreit. Robert Jordan begegnet Maria im Versteck der Gruppe. Es ist Zärtlichkeit auf den ersten Blick, und in den folgenden drei Tagen erfahren Maria und Robert gemeinsam eine Liebe, die auf dem Bedürfnis nach Menschlichkeit zu beruhen scheint, oder besser, die eine Flucht vor den Bedürfnissen des Krieges ist, vor der Unmenschlichkeit. Sie kennen einander nicht, aber sie sind, füreinander, das Versprechen eines besseren Lebens. Das Versprechen des Überlebens/Lebens inmitten der Arena des Todes. Nun hätte Jordan einen Grund zum Leben. Dennoch bleibt er seinem Auftrag treu, bleibt das männlich-entschlossene Rädchen, zu dem er von den Generälen erklärt wurde. Siegt die Sache über das Leben?
Kunst am Stierkampfring
Die vielen Riten des Todes
Eines der Themen des Buches ist die Konfrontation mit der eigenen Auslöschung. Hemingway nutzt immer wieder den Stierkampf als Resonanzboden. Die bereits erwähnte Figur Pilar war vor Pablo mit mehreren Matadoren zusammen, beschreibt einen davon, Finito, genauer. Interessant ist die Darstellung des Stierkampfes selbst. Er ist Tanz mit dem Tod, grausame Unterhaltung und Mathematik der Gewalt, doch anders als im Krieg Mensch gegen Mensch stehen die Chancen für den „Helden“ hier gut. Dennoch hat Finito keine Alternative, er ist Teil der Szene, muss sich unter den wachsamen Augen des Publikums seiner Angst stellen, erfolgreich töten. In einer eigenwilligen Szene beobachtet Pilar (in der Vergangenheit der Erzählung) das Ende eines Stierkampfes. Finito entfernt sich vom Stier, Pilar „knew he could not run across the ring if his life dependent on it“6. Stattdessen dreht er die erwartete Triumphrunde, traurigen Auges lächelnd. Warum rennt er nicht weg? War er zu erschöpft, musste er der Erwartung des Publikums genügen? Im folgenden Text macht Pilar klar, warum Finito Stierkämpfer wurde. Wie, fragt sie, könnte im damaligen Spanien ein armer Mensch zu Geld kommen? Sie detailliert drei Möglichkeiten: Werde Dieb, werde Stierkämpfer, werde Opernsänger. Finito war, scheint es, ein ehrlicher Mann mit einer durchschnittlichen Stimme.
Finito wird nach einem Festgelage zu seinen Ehren an inneren Wunden sterben, von den vielen abgeschlachteten Stiere seiner Karriere durch Schläge gegen den Bauch verursacht. Vielleicht stirbt er auch, weil er sich der (beruflich-gesellschaftlichen) Verpflichtung zur Teilnahme am Tanz mit dem Tod nicht erwehren kann. Es ist leicht, hier eine Brücke zwischen der Darstellung des Stierkampfs und dem größeren Narrativ des Romans zu schlagen, obwohl diese Verbindung natürlich nicht überbewertet werden sollte. Fühlbar ist sie dennoch, im Spannungsbogen zwischen dem Puente Nuevo und der Stierkampfarena Rondas.
Kehren wir zur Szene des rituellen Massakers an den faschistischen Männern zurück. Auch hier belegt das Vorhandensein eines Rituals eine gewisse Nähe zum Stierkampf – und die Opferelemente, in diesem Fall Menschen, haben keine Chance. Auch wird ihnen keinerlei letzte Würde zugesprochen, etwas, das Hemingway und seine Figur Pilar abzulehnen scheinen. Gerüchte, der Autor hätte eine ähnliche Szene in Ronda miterlebt, sind fast sicher falsch. Als der Kriegsberichterstatter Hemingway Spanien erreichte, hatten die Faschisten Ronda bereits erobert. Wie Ramon Buckley in seinem erhellenden Artikel Revolution in Ronda (unten verlinkt) schreibt, dürfte der Autor allerdings ähnliche Berichte gehört haben. Interessant ist auch ein von Buckley herangezogener Text von Hemingway. Beschrieben wird, wie die Knochen der getöteten Stiere und Pferde, ihrer verwertbaren Elemente befreit, zur Freude der kreisenden Bussarde über die Klippen Rondas geworfen wurden. Diese Szene dürfte der Autor (vor dem Bürgerkrieg) selbst in Ronda gesehen haben.
Ehrentafel für Hemingway am Paseo de Blas Infante
Hemingway, der „Macho-Mann“ der populären Vorstellung, erscheint zumindest mir nach der Lektüre des Romans sehr viel facettenreicher, als es sein Stereotyp annehmen lässt. Nach kurzem Nachdenken lässt auch der titelgebende Text ein pazifistisches Werk vermuten. For Whom the Bell Tolls bezieht sich auf ein (dem Roman vorangestellten) Zitat des englischen metaphysischen Dichters John Donne (1572-1631), bekannt als das „Niemand ist eine Insel“-Zitat. Der relevante Text lautet im weiteren Kontext: „Any man’s death diminishes me because I am involved in mankind; and therefore never send to know for whom the bell tolls; it tolls for thee“7. Donne respektiert das Leben der anderen hier auf radikale und erstaunlich einleuchtende Weise; bis hin zur Ablehnung des (notwendigen, da unausweichlichen) Todes. Und: Eine klarere Ablehnung der Mathematik der Gewalt, die wir Krieg nennen, dürfte es kaum geben.
Hemingway macht es weder sich noch seiner Leserschaft einfach. Er versteht die Not, sich zu verteidigen, vielleicht sogar für ein Ideal zu kämpfen, beschreibt seine Hauptfigur (aber) als einen im Grunde wenig politischen Menschen. Politisch sind die Leute im Hintergrund, diejenigen, die Jordan in den (fast) sicheren Tod senden. In seinem Essay Ernest Hemingway and his growth as a political activist in the 1930ies (unten verlinkt) zitiert Anders Greenspan den Autor: „I would like to write anti-war correspondence that would help keep us out of it when it comes“8. In seinen Berichten nannte Hemingway den spanischen Bürgerkrieg einen „kleinen Weltkrieg“ und schrieb nach Hause, er müsse sich nun fühlen, als hätte er weder Frau, noch Kinder, noch sonst etwas, da er anders inmitten der Grausamkeiten um ihn nicht funktionieren könne. Hemingway zeigte sich nach seiner Rückkehr in die USA vom Sieg der Republik überzeugt, sammelte Geld für humanistische Hilfsgüter, kritisierte die neutrale Haltung seiner Regierung und wurde für seinen klaren Antifaschismus kritisiert. Die Arbeit an For Whom the Bell Tolls begann er kurz vor dem Sieg der Franco-Faschisten.
Entsprechend ist es kein Wunder, dass Robert Jordan den Roman (fast sicher) nicht überlebt. Während die Liebesgeschichte zwischen Maria und Robert teilweise wenig überzeugt und die Figur Maria eher blass bleibt (besonders im Kontrast zur facettenreichen Pilar) schließt die letzte Szene einen seltsamen Kreis. Die Brücke ist gesprengt, der Auftrag erfüllt. Jordan, auf der Flucht verwundet, sieht es als seine Pflicht, zurückzubleiben, will die herandrängenden Faschisten aufhalten. Er gehorcht der Mathematik des Krieges. Damit Maria, die Liebe seiner Gegenwart, geht (überlebt), sagt er: „You are me now. Truly thus I go too.“ Du bist ich, wir sind eins. Wo du hingehst, da werde ich sein, wo du lebst, da lebe ich. Ich gehe in dir auf. Es ist der Schwanengesang des Individuums, eine (umgedrehte) Wiederaufnahme der titelgebenden Meditation des John Donne. Kein Mensch ist eine Insel, doch in der gemeinsamen Sache leben wir alle (vom Tod befreit) weiter. Aber wird hier wirklich der Verlust eines jeden Menschen jedes Schuldlevels und jeden Alters als Verlust angesehen? Oder nur der jener Menschen, die sozusagen auf unserer Insel leben? Robert Jordan sagt noch: „In war there are many things like this“; der Krieg ist eben so. Er ist fast kalt, ihm bleibt nur noch die Zugehörigkeit zur „Sache“. Dann zweifelt er: „Try to believe what you told her“; Versuche, an das zu glauben, was du ihr erzählt hast. Der Wunsch zu leben, er ist fast stärker als die Pflicht.
In einer Kritik des Romans aus dem Jahr 1940 schrieb Clifton Fadiman für das Magazin „New Yorker“: Hemingway „knows that the war, at its deepest level (the first battle of the war now on your front pages), is a war between those who deny life and those who affirm it. And if it is not yet such a war, it must become so, or it will, no matter who wins, have been fought in vain“9. Fadiman bezieht sich auf den 2. Weltkrieg. Ein wenig schwingt hier der oben erwähnte anarchistische Bäcker mit, überzeugt, für die richtige Sache die falschen Leute töten zu dürfen. Die letzte Szene des Romans, ebenso wie das titelgebende Zitat, legen (für mich) eine andere Interpretation nahe. Wer das Leben bejaht, sollte jeden Krieg ablehnen (zumindest so weit, dass auch „nötige“ Kriege so schnell wie möglich und um fast jeden Preis zu beenden sind). Und wen das Töten auch der falschen Menschen nicht ruiniert, der hat jeden Krieg (so notwendig er sein mag) bereits verloren.
Hemingway wird allgemein nicht unbedingt als Pazifist angesehen. Auf die Frage nach der Einschätzung des Schriftstellers kam, in Ronda und anderswo, mehr als einmal die schnelle Antwort „Na ja, ein alter weißer Mann …“. Sicher, der Autor hat den Ruf eines Raubeins, interessiert an Stierkampf, Krieg und Sex, dennoch ist die Aussage seltsam.10 Es wurde auch gesagt, Hemingway hätte das in seinen Büchern präsentierte Spanien erfunden. Natürlich sollte For Whom the Bell Tolls nicht als eine „wahre Geschichte“ aus dem Spanischen Bürgerkrieg gelesen werden. Es ist ein Werk im Gedankenäther, obwohl eben irgendwie verwurzelt in Orten und Ereignissen aus der echten Welt. Insofern ist es egal, wo die Geschichte spielen soll oder hätte spielen können. Interessant ist, welche Haltungen, Gedanken oder Fragen sie transportieren kann; welche Freiheiten sie im Lesery (ein Allgemeinum, auf das ich besonders hier nicht verzichten will) anstupsen kann. Wie dem auch sei, in Ronda steht, nicht weit von der Hemingway ehrenden Stele, die Statue eines Menschen aus Prag, den wohl kaum jemand einen „alten weißen Mann“ betiteln würde. Auch der deutschsprachige Dichter Rainer Maria Rilke, aus dem Prag der k.u.k.-Monarchie stammend, hat Ronda besucht.
Stadtwerbung im alten Bahnhof von Ronda
Rilke und das andalusische Idyll
Rainer Maria Rilke verbrachte den Winter 1912/13 in Spanien. Zuvor hatte er auf einem längeren Besuch bei seiner Mäzenin Marie von Thurn und Taxis auf dem Schloss Dino in Italien sein späteres Hauptwerk, die Duineser Elegien begonnen, war aber in eine Schreibblockade hineingerutscht. Leitmotiv dieser Elegien ist die Idee der Engel, und Rilke hoffte, in Toledo im auf der Ikonenmalerei aufbauenden Werk El Grecos (von dem er im Atelier des französischen Künstlers Rodin eine erste Ahnung erhalten hatte) Inspiration zu finden. Zunächst fand er zu einer, hm, poetisch-touristischen Begeisterung und schrieb zu Toledo, es sei „eine Stadt des Himmels und der Erde … sie geht durch alles Seiende hindurch …“. Vom kalten Winter vertrieben reiste er weiter, in den Süden, vertiefte in Córdoba seine Faszination für den Islam (er schrieb in einem Brief 1925 „der ‚Engel‘ der Elegien hat nichts mit dem Engel des christlichen Himmels zu tun – eher mit den Engelsgestalten des Islam“) und fand keinen Zugang zu Sevilla. Erst in Ronda kam im feinen, von Engländern betriebenen Hotel Reina Victoria küsste ihn die Muse wieder. Von dort ist es nicht weit zum Puente Nuevo. Das dramatische Panorama der Tiefe beeindruckte den Dichter, der in einem Brief schrieb „Der Fluß in seinem schluchtigen Abgrund spiegelt (…) auch mein Innerstes wieder“. Auch betrachtete Rilke sicher oft die Landschaft um Ronda: „es ist unbeschreiblich, um das ganze herum ein geräumiges Thal, beschäftigt mit seinen Feldflächen, Steineichen und Ölbäumen, und drüben entsteigt ihm wieder, wie ausgeruht, das reine Gebirge, Berg hinter Berg, und bildet die vornehmste Ferne“.
Das berühmteste Gedicht aus Rilkes Zeit in Ronda dürfte die Spanische Trilogie sein (Teil des Zyklus Gedichte an die Nacht, leicht im Internet zu finden, hier ein Auszug: „… ein Ding zu machen; aus den Fremden, denn/nicht Einen kenn ich, Herr, und mir und mir/ein Ding zu machen; aus den Schlafenden …“). Thema ist sowohl die Landschaft um Ronda als auch die ersehnte Einheit zwischen äußerer und innerer Welt, zwischen Bauern, Umgebung und Dichter, vielleicht ist es auch die Ein- oder Unterordnung relativ zur Schöpfung, die hier vom „Herrn“ erbeten wird. Oder die Auflösung des menschlichen Fluchs, bei Rilke das Bewusstsein. Die Selbstreflexion führt bei Rilke unweigerlich zum Leiden, er schreibt 1915 in einem Brief: „Wenn wir immerfort im Lieben unzulänglich, im Entschließen unsicher und dem Tode gegenüber unfähig sind, wie ist es möglich dazusein?“ Solche Texte wären kaum aus Hemigways Schreibmaschine gekommen. Trotz oder gerade wegen der tiefen Schlucht zwischen Werk und Wesen der beiden Autoren ist es durchaus möglich (aber sicher nicht nötig, versuchen wir es trotzdem) einen Resonanzraum zu Hemingways Werk zu öffnen. Wo Rilke, von Gott und seinen schrecklichen (weil dem unzulänglichen Menschen so absolut überlegenen) Engeln umgeben, sich nach Offenbarung und dem Einswerden mit einer Art Wahrheit sehnt, einem Leben innerhalb der richtigen Welt, in der es keine Außenwelt mehr gibt, keine Not zur Reflexion, sondern nur das ersehnte Richtige, Notwendige, stehen Hemingways Figuren zwar der übermächtigen Natur gegenüber, dem eigenen Tod oder der Unterordnung unter eine Sache, verstehen die Welt aber nicht als statisch, sondern wollen diese ändern. Anders gesagt: Die Unterordnung ist bei Hemingway ein Mittel zum Zweck, bei Rilke das einzig mögliche Glück.
Auch Rilke hat ein Gedicht über den Stierkampf geschrieben, Corrida. Ob er sich je eine solche Veranstaltung angesehen hat, ist unbekannt. Mensch kann darin die Konfrontation zwischen einem im schwarzen Stier personifizierten primitiven Drang, zwischen gebündeltem Wüten oder Wollen („… zu welcher Masse,/aufgehäuft aus altem schwarzen Hasse,/und das Haupt zu einer Faust geballt…“) und der unüberwindbar höherstehenden Lichtgestalt des Matadors, zu einer Art Engelsfigur sublimiert, sehen („…von Ewigkeit her gegen Den,/der in Gold und mauver Rosaseide/plötzlich umkehrt, und/wie einen Schwarm Bienen/und als ob er’s gerade leide,/den Bestürzten unter seinem Arm/durchlässt …“). Echte Stiere und Stierkämpfer dürften den Dichter dabei wenig interessiert haben (was auch nicht verlangt werden darf). Rilke war außerhalb der Saison für Stierkämpfe in Ronda, fror, vielleicht sogar im Hotel, das er als ausgezeichnet, neutral, teuer beschrieb und in dem er über Ecken bekannte Personen aus der besseren Gesellschaft Mitteleuropas traf (die Zugehörigkeit zur „besseren Gesellschaft“ hielt Rilke für so etwas wie sein Geburtsrecht; Hans Egon Holthusen schrieb in seiner Monografie zu Rilke, er „bestand darauf, selbst Abkömmling einer alten Adelsfamilie zu sein“, sah sich als „letzte sublime Blüte“ eines aussterbenden Geschlechts; adlige Vorfahren konnten nicht nachgewiesen werden). Wie auch immer, RIlke hatte einen, wenn auch temporären, Ort für seine Arbeit gefunden. Sein Briefwechsel mit Marie von Thurn und Taxis wechselt schnell von Eindrücken von Stadt, Land und Leuten zu Berichten über Lektüre, Gesundheit und Schreibarbeiten des Dichters. Die Zeit in Ronda (etwa zwei Monate) war produktiv. Als er Stadt und Spanien wieder verließ, hatte Rilke einen Impuls für sein Inneres erhalten, Inspiration für die Erkundung seiner Innenwelt oder dessen, was er für den Allgemeinzustand der Menschen hielt.
Die Statue Rilkes steht seit 1966, deutlich länger als die offizielle Erinnerung der Stadt an Hemingway (es wundert niemanden, dass Franco-Spanien dem Antifaschisten kein Monument widmen wollte). Rilke ist in Ronda beliebt, eine Straße und sogar eine Fahrschule tragen seinen Namen, der allgemein auf Rilke zurückgeführte Beiname Rondas, „la ciudad soñada“, wird schon länger genutzt. Auf dem alten Busbahnhof (soll spätestens 2025 von einem neuen abgelöst werden) tragen verschiedene Kachelbilder diesen Titel, an der Zufahrt zur Stadt von Sevilla aus wirbt Ronda seit 2021 mit einem entsprechend betitelten Mural für sich. Er, der berühmte Dichter der Moderne, der Sprachkünstler mit den traurigen Poetenaugen, ist eben ein Besucher, auf den jede Stadt stolz sein darf.
Ein weiterer Unterschied zwischen dem politisch aktiven Antifaschisten Hemingway und dem Dichter aus dem Prag Österreich-Ungarns, der, nach eigener Aussage, für die Politik nicht zuständig ist, soll hier erwähnt werden. Rilke schrieb 1924 an die mit ihm befreundete italienische Herzogin Gallarati Scotti: „Welcher Aufschwung in Italien, nicht nur in der Literatur, sondern auch im öffentlichen Leben“, womit er seine Begeisterung für Mussolini und den italienischen Faschismus ausdrückte. In ihrer Antwort widersprach Gallarati Scotti, schrieb klarsichtig, dass sie die Gewalt verabscheut (in Italien hatte der Faschismus mit der Ermordung des Sozialisten Giacometti Matteotti gerade die Maske der Zivilisation fallen lassen). Doch Rilke hörte die Sorge der Italienerin, ihr Plädoyer für die Seite des Lebens nicht. Er schrieb-schwärmte: „Die Freiheit ist zu wenig; selbst maßvoll und gerecht angewendet, läßt sie uns auf halbem Wege stehen, im engen Raum unserer Vernunft … Ist es nicht dies, worauf die Diktatoren, die wahren Diktatoren, sich mitunter verstanden haben, indem sie einen heilsamen und verläßlichen Gebrauch von der Gewalt machten?“ Rilke, der gerne über Engel schrieb, hatte wohl wenig für die Freiheit des Willens übrig, viel dagegen für die gestalterische Gewalt „wahrer Diktatoren“. Vielleicht sah er sich selbst im grellen Licht des „Richtigen“ stehen, während Scotti und Hemingway sich um eine menschlichere Welt bemühten. Allerdings taugen solche späten Einordnungsversuche höchstens dazu, vielleicht ein wenig vom Zeitgeist der Vergangenheit zu verstehen. Rilke versuchte, mit seinen Texten in sich, in die menschliche Befindlichkeit einzudringen. Sie sind ein Blick in eine tiefe Schlucht. Ob diese eine Brücke überspannt, ist fraglich; Brücken sind Menschenwerk.
Zitat einer der „Reisenden der Romantik“ (etwa: „Ronda zu besuchen, diese maurische Stadt, poetisch und unerreichbar, das ist einer der Höhepunkte im Leben!“
Ronda und die „Reisenden der Romantik“
Rilke war nicht der Erste, der aus Spanien über die Schönheiten des Landes berichtete. In Ronda erinnert ein zentral angebrachtes, von Zitaten umrahmtes Mosaik mit Titel Ronda a los Viajeros Romanticos an Besucher aus der Spätzeit der Romantik. Dabei handelte es sich meist um begüterte Personen, die sich, in einer Gegenbewegung zur Aufklärung und Industrialisierung, mehr oder weniger stark der (unverfälschten) Natur und der (edleren) Kulturvergangenheit zuwandten und diese Elemente bevorzugt an idealisierten oder entlegenen Orten fernab der „modernen“ Welt fanden. Die Romantiker waren in gewisser Weise auf der Suche nach einem „verlorenen Paradies“, aus dem sie der gesellschaftliche und kulturelle Wandel in ihren Heimatländern gefühlt vertreiben wollte. Die Wissenschaften begannen ihren Siegeszug, legten gefühlt die Abwesenheit eines freien Willens und den „Tod Gottes“ nahe. Vielleicht fühlten sich die Aristokraten darunter auch von der bürgerlichen Idee der „Demokratie“ bedroht, vielleicht suchten sie, Vorreiter des heutigen Tourismus, einfach nach Orten, an denen sie Entspannung finden würden. Ihr Heil suchten diese Menschen beispielsweise in privaten Gefühlswelten, entlang hübscher Wanderwege, in pittoresken Ruinen und in oft idealisierten Vorstellungen längst vergangener Zivilisationen. Spanien wurde früh zu einer Projektionsfläche für solche Fluchtbedürfnisse. Die dramatischen Landschaften Andalusiens boten sich an, zierten sie doch feine Relikte einer vom europäischen Christentum verdrängten Kultur. Der lokalvergangene „Moro“ (Maure) wird in solchen Reisetexten gerne als edle, sagenumwobene Figur beschrieben. Besonders entlang der Alhambra Granadas konnten sich manche Romantiker (und nicht nur diese) in eine bessere Welt zurückhangeln (mehr dazu in Travis Elling, Andalusien anders entdecken).
Touristen vor dem Monument für die Reisenden der Romantik
Die Zitate auf den oben erwähnten Mosaiktafeln beschreiben Ronda zuweilen in schönster Bilderbuchdramatik. Der spätere britische Premier Benjamin Disraeli, 1930 vor Ort („The air of the mountains, the rising sun, the rising appetite, the variety of picturesque persons and things we met and the impending danger made a delightful life“11) wird ebenso zititiert wie Lady Louisa Tension, für illustrierte Reisebücher wie Castille and Andalucia bekannt (1850: „Ronda is, indeed, one of those places which stands alone. I know of nothing to which it can be compared“12). Wer tiefer in diese Reisebeschreibungen und Briefe eintaucht, findet auch eigenwilligere Texte, die nicht unbedingt den heutigen Tourismusbedürfnissen entsprechen. So schreibt Alfred von Wolzogen, Freiherr, Theaterintendant und Autor, in seinem Werk Reise nach Spanien (1852) über ein kulinarisches Erlebnis in Ronda: „Eine Pastilleria, unter der man sich aber keine Pariser Patisserie denken darf, nahm uns in engen, dumpfen Stuben auf, und scharf geölte, ja mit dem schrecklichen ajo (Knoblauch) gewürzte Gerichte widerstanden selbst unseren ganz wacker ausgehungerten Mägen“. Zum Casa del Rey Moro (Haus des Maurenkönigs), einer Sehenswürdigkeit der Stadt, die den Zugang zum Boden der Tajo-Schlucht ermöglicht, schreibt Wolzogen „Ein unheimlicherer, eingeengterer Ort ist mir kaum jemals vorgekommen. Ich mußte an der Kerker Florestan’s im Fidelio denken, als unser kleiner Cicerone von Al-Motahed zu erzählen begann, der hier in dieser schauerlichen, Tajo de Ronda genannten Sandsteinschlucht aus den Schädeln der von ihm enthaupteten christlichen Gefangenen seinen Wein getrunken haben soll. Daß der edle Maure zu solchen Orgien gerade diesen Ort ausgewählt, beweist wenigstens, daß er seine abenteuerliche Geschmacksrichtung möglichst vor der Welt zu verbergen sich bestrebt hat“. Hier ist zu bedenken, dass der (wohlige, weil ferne) Schauer durchaus ein Teil der Romantik war. Das Casa del Rey Moro ist einen Besuch wert, obwohl wir die Geschichte des Schädelwein trinkenden Al-Mothahed im Bereich der Legenden verorten dürfen (sie wird auch in Richard Fords Handbook for Travellers in Spain von 1878 erwähnt; Ford glaubte auch den Erzählungen über den Tod des Architekten des Puente Nuevo). Zu Zeiten der maurischen Herrscher war das Casa del Rey Moro ein 600 Meter tiefer Brunnen, der, von Sklaven angetrieben, wohl zur Versorgung der arabischen Bäder und als Zugang zu Trinkwasser bei Belagerungen diente (bei der Eroberung Rondas 1485 nahm die christliche Armee den Brunnen vom Fluss aus ein). Die oberen Wohn- und sonstigen Räume sowie die hängenden Gärten wurden erst später angelegt; um 1900 erwarb ein US-Bürger das Gebäude und „entdeckte“ Räume im Untergrund, die ihn zur (sicher romantischen) Annahme verleiteten, er würde der Welt eine „zweite Alhambra“ eröffnen. Im Jahr 1911 gelangte das Anwesen in den Besitz der Gräfin Trinidad von Scholtz-Hermensdorff (gebürtig in Málaga, mit deutschen Wurzeln), die den Ort im Stil des Neomudéjar (einer am maurischen Stil orientierten historisierenden Architekturvariante) ausbauen ließ. Nun, das ist inzwischen auch schon lange her …
Statue von Amiya la Gitana
Eine einsame Statue in Ronda …
Neben den zum damaligen Jet Set gehörenden Besuchern der Stadt am Abgrund wollen wir auch eine Person erwähnen, die das schöne Ronda ihre Heimatstadt nennen darf: Ana Amaya Molina, auch „Reina de los Gitanos“ genannt. Eine Statue zu ihren Ehren findet sich unweit des Puente Viejo, vor den Toren der Altstadt und der weißen Wand der Padre Jesús-Kirche. Das Monument wird selten direkt gesucht, ist aber einen Moment der Reflexion wert. Amaya Molina war Gitarristin und Sängerin, bekannt für den Cante Jondo, den tiefen Blues Andalusiens, die wahrscheinliche Urform des Flamenco. Ein spanisches Wörterbuch definiert diese Musik als „den wahrhaftigsten andalusischen Gesang, tief im Gefühl“. Endgültig popularisiert wurde sie von dem Dichter Federico Garcia Lorca, der diese als volkstümlich betrachtete Kunstform (da keine Autorenschaft zugewiesen wurde) als Inspiration für seinen Gedichtzyklus Poema del Cante Jondo (1922) nutzte. Hier nur kurz der Beginn eines relevanten Lorca-Gedichts „La guitarra/hace llorar a los sueños./El sollozo de las almas perdidas/se escapa por su boca redonda.“13
Die Texte Lorcas, der die Sängerin auf einer von ihm und dem Komponisten Manuel Fallada 1921 in Granada organisierten Konferenz zum Cante Jondo (der vor der Verdrängung durch damals populärere Formen geschützt werden sollte) erwähnte, können wir heute problemlos gedruckt oder online finden; zu und von Amaya Molina ist kaum etwas überliefert. Die wenigen bekannten Fotos zeigen sie als alte Frau, immer in traditioneller Tracht und meist mit Gitarre. Bekannt ist, dass sie durch die „cafés cantantes“, die Sängercafés ihrer Zeit tingelte – in Ermangelung von Playlists, DJs und Radio wurde das Publikum von Menschen besungen. Es gibt sogar eine Quelle, die besagt, dass sie gerne folgenden Text sang: „Estoy viviendo en el mundo/Con la Esperanza perdía/No es menester que me entierrren/porque estoy enterrá en vía“14. Zudem gibt es einige Zeitungsberichte. Zum Anlass ihre Auftritte im andalusischen Pavillon der Weltausstellung 1930 in Barcelona, das internationalen Besuchern die Vielfalt Spaniens demonstrieren sollte, wurde Amaya Molina beschrieben: „Sie ist eine unterhaltsame Person, singt trotz ihres Alters mit viel Elan und bringt die Leute zum Lachen. Ihre Gitarre, die sie mit religiösen Symbolen verziert hat, lässt sie nie von ihrer Seite. Sie trinkt 15 bis 20 Glas Anis pro Tag. Wasser dagegen trinkt sie nicht, sie sagt, sie nutzt es nur, um sich zu waschen.“
Anekdoten und Kleinigkeiten, aber irgendwie kann die geheimnisvolle „Reina de los Gitanos“ (auch der Beiname soll aus den in Barcelona verfassten Artikeln stammen) gerade durch die wenigen Informationen, die verfügbar sind, den Einstieg in eine eigene Erfahrung Rondas erleichtern. Wer Ronda besucht … muss sie sich eben erträumen.
Minimalspaziergang
Bücher und Links
Ernest Hemingway, „For Whom the Bell Tolls”, Charles Scribner’s Sons, New York 1940
Rainer Maria Rilke, “Duineser Elegien“, Insel, Leipzig 1923
Rainer Maria Rilke und Marie von Thurn und Taxis, „Briefwechsel“, Max Niehans Verlag, Zürich, 1951 (verfügbar im Internet Archive, https://archive.org/)
Hans Egon Holthusen, „Rainer Maria Rilke in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten“, Rowohlt, Hamburg, 1958 (verfügbar im Internet Archive, https://archive.org/)
Richard Ford, „A Handbook for Travellers in Spain”, John Murray, London 1878 (verfügbar im Internet Archive, https://archive.org/)
Alfred von Wolzogen, “Reisen nach Spanien“, Hermann Schulze, Leipzig 1857 (verfügbar in der Google Library, https://play.google.com/books)
Pierre Vilar, „Kurze Geschichte zweier Spanien: Der Bürgerkrieg 1936-1939“, Wagenbachs Taschenbücherei 145, Erstausgabe 1986 in Frankreich unter dem Titel „La guerre Espagnole (1936-1939)“
Guzmán y Gallo, “Casa del Rey Moro” (Español, Informe, 1910)
Europäische Zentralbank (Banknoten): https://www.ecb.europa.eu/euro/banknotes/current/design/html/index.de.html#:~:text=Auf%20der%20Vorderseite%20beider%20Euro,Europa%20und%20der%20%C3%BCbrigen%20Welt.
Ronda allgemein:
Geschichte Rondas: https://ronda.ws/ronda-2/historia-de-ronda/
Puente Nuevo: https://www.rondatoday.com/puente-nuevo-and-el-tajo-gorge/
Hemingway-Statue: https://www.theolivepress.es/spain-news/2015/07/29/ronda-statues-to-honour-american-artists-hemingway-and-welles/
Hemingway und Ronda: https://www.surinenglish.com/lifestyle/corrida-goyesca-ronda-when-the-bullfight-the-20230830004028-nt.html
Hemingway und Politik: Ernest Hemingway and his growth as a political activist in the 1930ies: https://www.theartsjournal.org/index.php/site/article/view/1163/564
Analyse der Fakten des Romans „For Whom the Bell Tolls”: https://www.thefreelibrary.com/Revolution+in+Ronda%3a+the+facts+in+Hemingway’s+%22For+Whom+the+Bell…-a020181962
Besprechung des Romans im New Yorker, 1940: https://www.newyorker.com/magazine/1940/10/26/ernest-hemingway-crosses-the-bridge
Anaya la Gitana:
https://www.flamencasporderecho.com/anilla-la-de-ronda
- Etwa: „Der einzige Ort, an dem wir Leben und Tod direkt beobachten können, und damit meine ich den gewalttätigen Tod, ist, nun, da es ein Ende mit den Kriegen hat, die Stierkampfarena, und also wollte ich nach Spanien reisen, wo ich mich dem aussetzen konnte. Ich wollte das Schreiben erlernen und fing mit den einfachsten Dingen an, und eines der einfachsten und grundlegendsten Dinge ist der gewalttätige Tod.“ ↩︎
- Etwa: „Die gesamte Stadt ist, ebenso wie die umliegende Landschaft, eine einzige romantische Kulisse.! ↩︎
- Etwa: „Die Stadt liegt hoch über dem Fluss, und es gibt dort einen Platz mit einem Brunnen und Bänken und großen Bäumen, die den Bänken Schatten spenden (…) Auf drei Seiten des Platzes sind Arkaden und auf der vierten Seite eine von Bäumen beschattete Promenade entlang der Klippe und weit unten ist der Fluss. Der Fluss ist hundert Meter weit unten. (…) Pablo organisierte das alles so, wie er auch den Angriff auf die Kaserne organisierte. Zuerst ließ er die Eingänge zu den Straßen mit Karren absperren, als ob er die Plaza für eine Capea vorbereiten wolle, für einen Amateur-Stierkampf. Die Faschisten wurden im Ayuntamiento, dem Rathaus, festgehalten, das das größte Gebäude auf einer Seite des Platzes war.“ ↩︎
- Etwa: „Heute dreschen wir Faschisten, und aus der Spreu kommt die Freiheit dieses Volkes“ (oder dieses Dorfes). ↩︎
- Etwa: „Nur Kranke töten gerne (Menschen). Ich habe aber nichts dagegen, wenn es notwendig ist. Wenn es um die Sache geht.“ ↩︎
- Etwa: „Er wusste, er könnte um sein Leben nicht durch den Ring rennen“. ↩︎
- Etwa: „Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin ein Teil der Menschheit; drum frage nie, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst.“ (Donne, Meditation XVII, Devotion) ↩︎
- Etwa: „Ich wäre gerne ein Anti-Kriegs-Korrespondent, der dazu beiträgt, uns aus dieser Sache rauszuhalten“ ↩︎
- Etwa: „Hemingway weiß, der Krieg – und wir alle lesen gerade über dessen erste Schlacht – ist ein Krieg zwischen denen, die das Leben verneinen, und denen, die es bejahen. Und wenn dies noch kein solcher Krieg ist, so muss er ein solcher werden, wird ein solcher werden, denn sonst, egal, wer gewinnt, wurde er umsonst geführt.“ (Fadiman, „Ernest Hemingway Crosses the Bridge“, New Yorker, 1940) ↩︎
- Als Hemingway For Whom the Bell Tolls schrieb, war er 40 Jahre alt. Gemeint ist, klar, das aktuelle Misstrauen gegenüber allen Prä-Millennials, zumindest allen männlichen und „weißen“, gemäß dem BRD-Jugendspruch der 1970er, „Traue keinem über 30“, also keinem, der die Nazizeit erlebt hatte. Ein solches Schrotflinten-Argument mag damals eine geringe Berechtigung gehabt haben, heute wirkt es tendenziell antidemokratisch. ↩︎
- Etwa: „Die Bergluft, die aufgehende Sonne, der aufkommende Appetit, die Vielfalt der malerischen Personen und Dinge, denen wir begegneten, und ein ständiges Gefühl Gefahr machten das Leben zu einem Vergnügen.“ ↩︎
- Etwa: „Ronda ist wirklich einmalig. Ich wüsste nichts Vergleichbares.“ ↩︎
- Etwa: „Die Gitarre/bringt die Träume zum Weinen./Das Schluchzen verlorener Seelen/entweicht ihrem runden Mund.“ ↩︎
- Etwa: „Ich bin auf der Welt/ohne Hoffnung/Ich brauche kein Grab/Ich bin im Leben begraben.“ ↩︎
Cool