
Toruń – eine Stadt am Ufer des Kosmos …
Abbildung: Der goldene Esel erinnert an den früheren „Strafesel“ oder „Spanischen Esel“ von Toruń, auf den dienstvergessene Stadtwärter und ähnliche Kleinstraftäter gesetzt wurden; die Landeszuordnung soll nicht auf das Land Spanien, sondern auf die Spanische Inquisition verweisen.
Abschnitte
Toruń und der Weltenbeweger Kopernikus
Die polnische Stadt Torún, gelegen an der Weichsel, bietet neben ihrer schönen Lage direkt neben einem mächtigen Fluss auch viel Backsteingotik, Flair und Geschichte. Die Stadtgründung erfolgte im 13. Jhd. durch die Ordensritter, obwohl die Besiedlungsgeschichte des Orts natürlich weiter zurückreicht. Bekannt dürfte Torún heute den meisten als Geburtsort des Nikolaus Kopernikus sein; ein Gebäude in der Ulica Kopernika (zu Kopernikus‘ Zeiten Annengasse; die Stadt wurde damals Thorn geschrieben) beherbergt ein Leben und Werk des Astronomen und Domherren gewidmetes Museum. Als literarische Begleiter für die Stadt möchte ich einen Text von Kopernikus vorschlagen, der eher selten gelesen wird (ich selbst habe ihn nur teilweise aufgenommen; einigen wir uns darauf, dass wir hier ein wenig der Gedankengeschichte nachspüren): De revolutionibus orbium coelestium, „Über die Umlaufbahnen der Himmelssphären“.
De revolutionibus gilt als Auslöser der kopernikanischen Wende, der Abkehr vom geozentrischen Weltbild zugunsten der Heliozentrik. Zur Erinnerung: Spätestens seit Aristoteles wurde die Kugelgestalt der Erde angenommen; er argumentierte, dass alle schweren Körper zum Mittelpunkt des Alls streben müssten, weswegen die Erde, die sich um diesen Mittelpunkt herum befindet, eine Kugel sein muss. Aus dieser und ähnlichen Annahmen entwickelte sich das geozentrische Weltbild. Manche halten das geozentrische Weltbild für einen Ausdruck der Arroganz des Menschen. Dies ist aber sehr kurz gedacht. Zum einen lag die moderne Vorstellung des Weltalls lange einfach nicht nahe, zum anderen war die Vorstellung der „Himmelssphären“ eher die einer verheißungsvollen Weltordnung. Die Erde, im Zentrum eines aus Schalen bestehenden Universums, war sozusagen der Tiefpunkt der Schöpfung. Hier lebte der Mensch im chaotischen Wandel seines Schicksals, wurde hilfloses Opfer von Krankheiten und anderem Ungemach, nur, um irgendwann zu sterben – und dann hoffentlich ins Himmelreich aufzusteigen. Dieses Himmelreich, in den Bahnen der Planeten und Sterne verortet, versprach dagegen Ordnung, Sicherheit, Glück. Es war eine durchaus reiche Vorstellungswelt, die den Kosmos als eine Art geordnetes Elternhaus ansah. Auf der Erde dagegen musste der Mensch sich würdig beweisen, in diese Ordnung einzutreten. Eine Vorstellung, die im Christentum wie im Islam ähnlich gewesen sein dürfte.

Darstellung einer Armillarsphäre (oder „Weltmaschine“), hier mit der Erde im Zentrum. Solche Geräte dienten zur Bestimmung der Standorte der Gestirne und zur Demonstration der Himmelsbewegungen relativ zur Erde. Das Instrument veranschaulicht, dass weiterführende astronomische Erkenntnisse auf Beobachtungen mit der Erde als angenommenem Zentrum aufbauen müssen – die Beobachtungsperspektive der Menschheit ist weiterhin weitgehend geozentrisch.
Ordnung muss sein
Ebenso wie die Verfechter des geozentrischen Weltbilds ging Kopernikus davon aus, dass sich in der (perfekten) Schöpfung alles auf (irgendwie perfekten) Kreisbahnen bewegen muss; in dieser Hinsicht gab es schon vor Beobachtungen, die nur über Umwege in das geozentrische Weltbild einzupassen waren. Hierzu ein kurzes Zitat aus De revolutionibus, Kapitel 10: „Da nun Diejenigen, welche dem Plato folgen, meinen, dass alle Planeten als sonst dunkle Körper, durch das von der Sonne empfangene Licht leuchten: so müssten jene, wenn sie sich unter der Sonne befänden, wegen ihres eben nicht grossen Abstandes von derselben, halb oder wenigstens nicht völlig rund gesehen werden; denn sie würden das empfangene Licht gewöhnlich seitlich, d. h. nach der Sonne hin, zeigen, wie wir dies beim zu- und abnehmenden Monde sehen. Auch sagen sie, die Sonne müsste durch ihr Dazwischentreten zuweilen verfinstert werden, und das Licht derselben nach Massgabe ihrer Grösse einen Verlust erleiden; da dies nun niemals bemerkt wird, so sind sie der Meinung, dass sie niemals unter der Sonne zu stehen kommen.“ Es ist leicht, zu sehen, dass Kopernikus solche Probleme erfolgreich mit seinem Modell eines heliozentrischen Universums ansprechen konnte; die umfangreichen Erklärungen seiner Rechenmethoden dagegen sind zumindest für mich schwieriger zu verstehen, ich habe diese Abschnitte dann auch übersprungen. Der Punkt hier ist aber, dass Kopernikus keineswegs gegen die himmlische Ordnung rebellierte. Er wollte sie detaillierter beschreiben. Und dies, auch das ist kaum ein Zufall, nicht der Allgemeinheit gegenüber, sondern den gebildeten oder berufenen Personen. „Astronomie wird für Astronomen geschrieben“, heißt es in seinem Werk. Und dazu gab es guten Grund. Der Vatikan war an einer Kalenderreform interessiert, da klar geworden war, der bislang benutzte julianische Kalender war bei der Kalkulation der christlichen Feiertage nicht allzu vertrauenswürdig. Für den Domherren Kopernikus war die Beschäftigung mit den Kreisbahnen eine gottgefällige Angelegenheit.
Das heliozentrische Weltbild setzte sich mit der Publikation des Werks im Jahr 1543, dem Todesjahr des Nikolas Kopernikus, keineswegs sofort durch. Aber seine Gedanken und Rechenansätze erregten das Interesse anderer Astronomen, unter anderem des Erasmus Reinhold, dessen 1551 publizierten preußischen Tafeln der Himmelsbewegungen zusammen mit den Ausführungen des Kopernikus zur Einführung des noch heute gültigen gregorianischen Kalenders durch den Vatikan führten. Trotz dieses beachtlichen Erfolgs wurde De revolutionibus im Jahr 1616 vom Vatikan auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt – die Vorstellung, dass „die Erde sich bewege und die Sonne stillstehe“ galt der römischen Inquisition als nicht mit der Heiligen Schrift vereinbar. Allerdings drückte die zuständige Indexkongregation die Meinung aus, es wäre ausreichend, wenn im Text die Theorien des Kopernikus als Hypothesen kenntlich gemacht würden (so wurde das Buch nicht verboten, sondern „suspendiert“). Dies geschah 1620 (die nicht „korrigierte“ Fassung wurde erst 1758 aus dem Index entfernt). Etwa 1624 wurde dann Galileo Galilei vom Vatikan ermuntert, doch ruhig über die Ideen des Kopernikus zu schreiben – wobei diese eben als Hypothesen zu betrachten wären. Das Resultat war der berühmte Dialog des Galileo Galilei über die zwei wichtigen Weltsysteme, das ptolemäisch und das kopernikanische. Auch dieses Werk schaffte es auf den Index der Inquisition; Galilei musste seinen Theorien offiziell abschwören. Der ihm zugesprochene ikonische Satz („Und sie bewegt sich doch!“) dürfte zwar eine spätere Erfindung sein, bezieht sich aber mit großer Sicherheit auf Kopernikus‘ Ideen. Wie dem auch sei, 1633 verbot der Vatikan per Dekret die Lehre, dass „die Erde sich bewege und die Sonne stillstehe“.


Fassade des Kopernikus-Hauses und Wegweiser für das Piernika-Museum (Pfefferkuchen-Museum)
Die neue Welt
Warum kam es zu diesem vehementen Widerstand des Vatikansystems gegen die Idee des Heliozentrismus, und warum so spät? Möglich ist eine Verbindung mit der Bedrohung der bestehenden Weltordnung (der Allmacht Roms) durch den Protestantismus. So war in Toruń, damals dem (konfessionell gemischten) Herzogtum Preußen zugehörig, 1557 die Reformation angenommen worden. Im Kampf gegen die Auflösung des eigenen Machtsystems, das zuvor neuen Gedanken gegenüber durchaus aufgeschlossen gewesen sein mag, wurde das Vatikansystem extrem konservativ; die Verteidigung des altbewährten Weltbilds wurde zu einer identitätsstiftenden Aufgabe. Etwas, das Galilei zu spüren bekam, obwohl die Auflösung der Vorherrschaft der alten Ordnung wahrscheinlich breit spür- und auch sichtbar war. Durch die Entwicklung des Teleskops und die Beobachtungen von Galilei und Kepler wurde klar, dass es sich bei den Gestirnenum natürlicher Objekte handelte, Apostel und Engel wurden nicht entdeckt. Diese neue Leere mag so manchem Angst gemacht haben. In dem um 1600 entstandenen Stück Troilus and Cressida lässt Shakespeare Odysseus als Vertreter der Elite eines vom Umbruch bedrohten Systems die „alte Ordnung“ beschwören:
The heavens itself, the planets and this Centre
Observe degree, priority and place
Insisture, course, proportion, season, form,
Office and custom, in all Line of order;
And therefor is the glorious planet Sol
In noble eminence enthroned and sphered
Amidst the other; whose medicinable eye
Corrects the Ill aspects of planes evil,
And posts, like the Commander of a king,
Sans Cheque to good and bad; but when the planes
In evil mixture to disorder wander,
What plagues and what portents! What mutiny!
(Troilus and Cressida, 1. Akt, 3. Szene; etwa: „Der Himmel selbst, die Planeten und im Zentrum diese Erde/Gehorchen Rang, Vorrecht und Stellung/Stetigkeit, Bahn, Proportion, Jahreszeit, Form/Berufung und Brauch in guter Ordnung/Weswegen der segensreiche Sonnenplanet/Prächtig hervorgehoben und in hoher Sphäre/Wohltätig wirkt; sein heilreiches Auge/Wirkt den üblen Aspekten böser Ebenen entgegen/Und hält, wie eines Königs General/Gut und Bös‘ im Zaum; doch wenn die Sphären/In falscher Mischung außer Band geraten/Was kommen dann für Plagen! Böse Omen! Meutereien!“)
Trotz des Widerstands durch den organisierten Glauben setzte sich das heliozentrische Weltbild durch – mit teilweise unerwarteten Bannerträgern. So nannte sich der französische König Ludwig XIV. (1638-1725) „Sonnenkönig“ auch gerade weil er sich im Zentrum der Schöpfung sah (womit er korrekt die hierarchischen Komponenten des alten kosmologischen Systems übernahm). Diese machtpolitische Nutzung des heliozentrischen Weltbilds mag zeigen, dass Europas weltlich-aristokratisches Herrschaftssystem gegenüber der Kirche erstarkte; wichtiger ist aber ein anderer Aspekt. Aus der warm beseelten göttlichen Ordnung mit der lockenden Karotte der himmlischen Seligkeit am Ende, in die alle Sterblichen sich zu seinem transirdischen Wohl einfügen mussten, wurde ein kaltes, mechanisches Uhrwerk, das der Mensch zu seinen Zwecken zu manipulieren suchte. Diese neue Sichtweise entmythologisierte das Universum und trug zur Entfremdung des Menschen von der Natur bei. Sicher hatte sie auch Einfluss auf die Entstehung der Aufklärung und der entsprechenden Gegenbewegungen, darunter die Romantik, deren Vertreter ihr Heil in einem persönlichen, inneren Universum suchten.
Der Bann von 1633 gegen die Annahme einer bewegten Erde wurde 1757 aufgrund der Erfolge der Erkenntnisse des Isaac Newton aufgehoben, selbst die Inquisition erkannte 1822, dass sie auf verlorenem Posten stand. Der Glaube konnte den Ergebnissen der Wissenschaft, den Maschinen und den Berechnungen, nicht viel entgegensetzen. Aber auch die Tage des heliozentrischen Weltbilds waren gezählt; ab spätestens 1919 (Bestimmung der Lage des Sonnensystems innerhalb der lokalen Galaxie durch Harlow Shapley in den USA) wurde sonnenklar, dass der Mensch einen wenig zentralen Seitenarm der Milchstraße bewohnt. Wir können erste Ansätze dieser neuen, dezentralisierten Kosmologie sogar vor Kopernikus finden. Nikolaus von Kues schrieb in seinem Werk De docta ignorata (Über die belehrte Unwissenheit) bereits 1440: „Also hat die Weltmaschine ihr Zentrum sozusagen überall, und ihre Peripherie nirgends; denn Gott, der überall und nirgends ist, ist ihr Umfang und ihr Zentrum.“ Auch das Werk dieses Philosophen und Theologen (in dem er sogar über die Existenz von Wesen auf anderen „Sternen“ spekuliert) wurde angefeindet, aber nicht „suspendiert“ – vielleicht, weil die Zensurbehörde der römischen Inquisition noch nicht existierte (sie wurde 1542 eingerichtet).

Rathaus von Toruń, davor die Kopernikus-Statue aus dem 19. Jhd.; der Standort hat eine eigentümliche Geschichte. Vor der Aufstellung des Ehrenmals soll sich hier der Pranger der Stadt befunden haben.
Neue Arbeit, neue Mühen, neues Erwerben
De revolutionibus ist sicher kein leichter literarischer Begleiter. Es ist aber lohnenswert, während einer Erkundung der Stadt und des lokalen Kopernikus-Museums vielleicht an einem Pierniki (lokale Lebkuchen; auch hierzu gibt es ein Museum) nibbelnd oder eine der schönen Kirchen besuchend über die Wirkungsgeschichte des Werks und das Wesen der Spekulationen nachzudenken. Hier mag eine Aussage des Mathematikhistorikers Moritz Cantor aus dem Vorwort zur ins Deutsche übersetzen Ausgabe des Werks 1878 passend sein: „Wir fordern unsere Leser aus sich selbst die Frage zu beantworten, ob ohne Coppernicus ein Kepler, ein Gallilei, ein Laplace, ein Gauss möglich gewesen wäre?“ Er schreibt darin auch, dass eine Entdeckung „ihren wahren Wert gerade dadurch (zeigt), dass sie fortwirkend stets neue Arbeit, neues Mühen, neues Erwerben möglich macht“. Meiner Meinung nach ist dieses „neue Erwerben“ allerdings nicht auf die „Männer der strengen Wissenschaft“ beschränkt, die Cantor als Leser des „unsterblichen Werks“ ausmacht, und die Astronomie (wie jede Erkenntnissuche) nicht nur Sache einer illustren Runde. So dürften wir uns heute durchaus fragen, warum Cantor nur eine Männerwelt der Wissenschaft annimmt (die uns als Teil eines Patriarchats erscheinen mag) und ob ohne den Reichtum seiner Familie (im Kopernikus-Museum erlebbar) und seine daraus resultierende Höherstellung das Genie Kopernikus überhaupt möglich gewesen wäre. Das Wesen des denkenden Menschen ist es eben auch, ständig neue Perspektiven auf das bereits Erkannte, das Geschriebene, das Gewesene zu eröffnen.
Allein der Titel des Werks reicht aus, um einen Gedanken aufflammen zu lassen. „Denkst du nicht, dass dieses Buch den Begriff der Revolution als Umbruch geprägt hat“, fragte mein Reisebegleiter beim Besuch des Kopernikus-Hauses. Ein interessanter Ansatz, und ein Hinweis auf etwas, das Kopernikus kaum wird beabsichtigt haben. Im relevanten wortgeschichtlichen Eintrag des Zentrums für digitale Lexikographie der deutschen Sprache steht, der Begriff „Revolution“ sei im Deutschen seit dem 15. Jahrhundert mit der Bedeutung „Umlauf der Gestirne“ belegt, ab dem 17. Jahrhundert dann auch im politischen Kontext gebräuchlich. Unbestritten ist, dass der heutige Gebrauch sich meist auf die Französische Revolution bezieht. Allerdings wurde die Ablösung des Absolutismus in England bereits 1689 als „Glorious Revolution“ bezeichnet. So wurde aus dem Umlauf der Gestirne irgendwann die Umwälzung der Gedanken und die (später leider oft gewalttätige) Neuordnung der gesellschaftlichen Gegebenheiten.

Die „Kopernikusbank“ in Olsztyn (Allenstein), 2003 aufgestellt. Kopernikus diente in der Stadt als Domherr, stellte Beobachtungen der Gestirne an und organisierte für den Preußischen Bund die erfolgreiche Abwehr der Ordensritter.
Wem gehört Kopernikus?
De revolutionibus wurde nicht in Toruń, sondern in Olsztyn in Masuren und in Frombork an der polnischen Ostseeküste verfasst, dennoch gelten Kopernikus und sein Werk besonders in der Stadt an der Weichsel als lokales Erbe. Ein interessanter Aspekt ist hier die nationale Inanspruchnahme der Figur Kopernikus. Als Galionsfigur der kopernikanischen Wende, der Abwendung von der mittelalterlichen Weltsicht, bietet er sich als Medium für die Identitätsbestätigung an. Als Projektionsfläche verleiht er denen, die sich ihm wesensverwandt fühlen, eine Art Stärke oder Bestätigung. So wurde Kopernikus für identitäre Zwecke abwechselnd als polnischer oder deutscher Denker vereinnahmt. Die Kraft dieses Identitätsangebots zeigte sich 1807, als eine Kopernikus-Büste in die Walhalla eingeführt wurde, einem Tempel im bayrischen Donaustauf, der mit seiner Versammlung an Denkern „teutscher Zunge“ zur deutschen Nationenbildung beitragen sollte. Es soll damals Proteste von polnischer Seite gegeben haben. In Toruń, wo über Jahrhunderte eine Mischung aus Menschen polnischer und deutscher „Zunge“ miteinander gelebt hatte, wurden die offiziellen Feierlichkeiten zum 400. Geburtstag des berühmten Sohnes der Stadt 1873 von Polen und Deutschen getrennt gefeiert – beide empfanden ihn als wichtigen Teil „ihrer“ Geschichte. Ein paar Zitate aus der Thoruner Zeitung, die über mehrere Ausgaben hinweg eine Beschreibung der feierlichen Zusammenkünfte der Gebildeten, Schönen und Verwaltenden zur Feier des Kopernikus veröffentlichte, mag den Zeitgeist verdeutlichen: „Herr Prorector Maginificius Dr. Casparh sprach im Namen der Universitäten, Copernicus habe nach Wahrheit gestrebt, und weil er dies so ernstlich gesucht, habe er auch wahres gefunden, und die Wissenschaft überhaupt gehoben, die Pflege der Wissenschaft liege jetzt hauptsächlich bei den Universitäten, die aber dieser Aufgabe nur dann genügen können, wenn sie vor allen Dingen nach Wahrheit trachten, und für deren Gewinnung und Erkenntnis mutig jeden Kampf aufzunehmen bereit seien, der Sieg in solchem Kampf sei ihnen gewiss.“ Im Folgenden wurden weitere gelehrte Aussagen zitiert, darunter auch eine Rede, die das Genie Kopernikus explizit keiner Nation und keinem Geschlecht zurechnete, sondern der Menschheit. Neben den damals üblichen Hochrufen auf den deutschen Kaiser wurde auch die Annahme erwähnt, „dass von anderer Seite der Name des Copernicus nur dazu benutzt sei, um exclusiv nationale Kundgebungen zu veranlassen“. Dies ist zumindest in dieser Zeitung der einzige Hinweis auf einen Konflikt. Stattdessen wird der friedliche Austausch zwischen den beiden Veranstaltungen beschworen, genauer wurde den deutschsprachigen Feiernden eine Festschrift übergeben, während die polnische Runde durch einen Entsandten eine druckfrische Festausgabe des Hauptwerks des Kopernikus erhielt. Danach dürften gemischtes Volk und geladene Gäste beider Feierlichkeiten die (zur Feier des Tages durch einen Flammenbogen geschmückte) 1853 aufgestellte Statue des Kopernikus bewundert haben, die noch heute vor dem Altstädtischen Rathaus (gilt als Vorlage für das Rote Rathaus in Berlin) bewundert werden kann. Die Inschrift („Nikolaus Kopernikus aus Thorn, der die Erde in Bewegung setzte und Sonne und Himmel anhielt“) wurde damals zukunftssicher in lateinischer Sprache aufgebracht. Anzumerken bleibt, dass Kopernikus, der seine Werke auf Latein oder Deutsch verfasste (obwohl er sicher auch Polnisch sprach), sich in der Universität Padua als Pole einschrieb – in der Universität Bologna dagegen als Angehöriger der deutschen Nation. Mal so dahingesagt: Für ein starkes Individuum sind identitäre Zuschreibungen Tand, mit Kopernikus Werk und der kopernikanischen Wende hat all das nichts zu tun. Er war aber eindeutig in Toruń gebürtig und hat in Frombork gearbeitet.
Wie friedlich das Zusammenleben der verschiedenen Sprachgemeinschaften in Toruń einst war, kann ich nicht sagen. Allerdings sind die Effekte der neuen Weltordnung des ersten Teils des 20. Jahrhunderts, die sich in der Idee der Selbstbestimmung der Völker (was zuweilen zu einer „Bereinigung“ der zuvor, im Sinne dieser Weltsicht, gemischten Bevölkerung führte) ausdrückte, in der lokalen Geschichte gut zu erkennen. Um 1900 sollen etwa 18.000 Personen mit polnischer und 27.000 mit deutscher Muttersprache in der Stadt gelebt haben. Im Jahr 1931 sollen es 50.000 mit polnischer und 3.000 mit deutscher Muttersprache gewesen sein. Was war passiert? Es war die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg; gemäß des Versailler Friedensvertrags von 1920 hatte Deutschland Teile seiner östlichen Gebiete, die im Laufe der Geschichte von polnischen und deutschen Herrschern beansprucht worden waren, an die Zweite Polnische Republik abgegeben, darunter Toruń. Dies führte zu einem starken Zuzug von polnischen und zu einer Abwanderung deutschsprachiger Bewohner. Ob diese so dramatisch war, wie es diese Nummern vermuten lassen, ist fraglich; mancher mit zwei Sprachen aufgewachsener Mensch mag einfach die „Zunge“ gewechselt haben, um sich besser einzufügen. Die polnische Seite soll die Abwanderung keineswegs forciert haben (Polen hatte die Gleichstellung nationaler Minderheiten vertraglich garantiert), und auch in der Weimarer Republik war man nicht an einer Abwanderung interessiert, man sah eher die Gefahr einer „Entgermanisierung“ der Region. Nur zur Sicherheit, ich möchte hier keineswegs das Verhalten der deutschen Politik jener Jahre und davor irgendwie entschuldigen oder Schuldzuweisungen relativieren. Dennoch ist es möglich, die Politik des Selbstbestimmungsrechts der Nationen oder Völker kritisch zu sehen (so zählte z. B. der Historiker Götz Aly diese Setzung „zu den Ursachen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts“). Die Zeiten des einfachen Neben- oder Beieinanders waren wenige Jahrzehnte später gänzlich vorbei. 1939 annektierte Nazideutschland Toruń. Es wurde eine neue, rein deutschsprachige Verwaltung eingerichtet. Viele Toruńer wurden von den Nazis ermordet, woran eine Gedenkstätte in der Festung VII außerhalb der Altstadt erinnert. Auch diese traurige und brutale Geschichte sollten Besucher der Stadt wahrnehmen. Im Angesicht der Gräueltaten Nazideutschlands hätte Kopernikus sicherlich die polnische Identität gewählt. Heute ist Toruń glücklicherweise eine friedliche und gern besuchte Stadt, deren Besucher über die lokale Geschichte, das Weltall und den Wert der gründlichen Beobachtung der Umwelt nachsinnen können; in den Museen der Stadt und auch durch die Beschäftigung mit den Werken und den Folgen der Werke des Kopernikus.
Texte und mehr
Kopernikus, Nikolaus: De revolutionibus orbium coelestium (Deutsch): https://de.wikisource.org/wiki/Nicolaus_Coppernicus_aus_Thorn_%C3%BCber_die_Kreisbewegungen_der_Weltk%C3%B6rper/Erstes_Buch
Shakespeare, William: Troilus and Cressida: https://shakespeare.mit.edu/Shakespeare/troilus_cressida/
Touristische Beschreibung Toruns: https://www.polen.travel/de/torun-thorn/
Diskussion des Schlagworts „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ von Jörg Fischer: https://www.deutschlandfunk.de/problematisches-schlagwort-100.html
Nikolaus von Kues, De docta Ignorata (Deutsch): http://www.hoye.de/cus/docign.pdf
Thoruner Zeitung; in den Ausgaben Nr. 43-48 wird im Abschnitt für Lokales über die „Copernicusfeier“ berichtet: https://kpbc.umk.pl/dlibra/publication/91482/edition/96041#structure
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